Die Inszenierung aus Bochum heißt im Ganzen: „Das neue Leben – Where do we go from here?“. Frei nach Dante Alighieri, Meat Loaf und Britney Spears führt uns Christopher Rüping mit dieser Inszenierung durch das Jugendwerk von Dante Alighieri „Vita Nova“, mit Teilen von Dantes „Göttlicher Komödie“ und bis hinein zu moderner Musik. Es ist eine Produktion des Schauspielhauses Bochum, die im Rahmen von „Transfer Bochum/Zürich“ entstanden und zum Theatertreffen 2022 eingeladen war.
Ein Todestag:
2021 jährte sich der Todestag von Dante Alighieri zum 700ten mal. Eine Anmerkung: Ich gebe Nachhilfe in Latein und eine Schülerin sagte mir letztens: „Wenn eine Generation 30 Jahre sind, sind schon 20 Generationen 600 Jahre!“ Ja, das Mittelalter, die Zeit bis dahin zurück ist nichts! Ich persönlich erlebte, erlebe aktuell und werde in meinem Leben allein fünf Generationen erleben: Meine Großeltern – meine Eltern – meine eigene Generation – meine Kinder – und möglicherweise einmal meine Enkelkinder. Was sind da 20 oder auch 50 Generationen? 60 Generationen und wir sind bei den Römern!
Die Links:
HIER der Link zur Stückeseite „Das neue Leben“ auf der Website des Schauspielhauses Bochum.
HIER einen Trailer zum Stück.
HIER der Link zur Website des Theatertreffens 2022 mit allen Infos zu allen Stücken und Veranstaltungen und dem weiteren Programm!
Insgesamt zum Abend:
Er konnte dieses Jahr im Rahmen der Eröffnung des Theatertreffens 2022 online im Livestream verfolgt werden. In Bochum ist es Mitte Juni zweimal zu sehen. Ein Fazit: Dieser Abend schaffte es, das Leben ganz groß und gleichzeitig ganz klein zu machen. Ja, das geht! Das Leben ist sehr groß, wenn es auf wahre Liebe trifft – und das Leben ist sehr klein, wenn es auf das Alter trifft. Um beide Aspekte geht es. Und so kann ich mein Gefühl nach diesem Theaterabend beschreiben, so hat man an diesem Abend einen sehr grundsätzlichen Blick auf das Leben werfen können. Aktuelle Frage: Könnte denn etwa ein Mensch wie Wladimir Putin mit solchen Gedanken zum Leben irgendetwas anfangen? Gibt es Liebe in seinem Leben? Das kann nicht sein!
Der Abend endet mit den schönen Worten, an das Publikum gerichtet: „Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Zuerst die schlechte: Wir werden alle zu Asche vergehen … Und jetzt die Gute: Es bleibt noch Zeit für dich und mich!“ Insoweit ist der Abend eine Eloge an die tief empfundene Liebe, bei aller Vergänglichkeit.
Zu ein paar Einzelheiten des Abends:
- Die SchauspielerInnen:
Sie wirken bei Christopher Rüping immer wie „auf die Bühne geworfen“. So auch hier. Das wirkt immer entspannt. Sie sollen, meint man, ein Stück entwickeln auf einer bei Christopher Rüping meist weitgehend freien Bühne. Sie sitzen hier zunächst ganz hinten am Ende der riesigen Bühne nebeneinander auf einem bankähnlichen Wandvorsprung, bevor es losgeht, blicken still auf ihre große, fast leere Bühne. (Eine große Ausnahme von diesem “Prinzip“ bildete insoweit der sagenhafte 10-Stunden-Theaterabend „Dionysos Stadt“ von Christopher Rüping an den Münchner Kammerspielen von vor etwa drei Jahren. Dort war die Bühne meist umfassender gestaltet.)
Die vier SchauspielerInnen (am Ende sind es fünf) haben alle eine wunderbare Präsenz auf der Bühne! Damian Rebgetz und William Cooper besonders. Sie beide sind herrlich unterschiedlich, was erfrischend wirkt! Alle vier reden miteinander, sind aber immer Teil einer Person: Dante Alighieri, in seinen Überlegungen über seine einzige Geliebte Beatrice! Am unklarsten einordnen kann man, dachte ich mir, Anna Drexler. Sie spielt oft einen sehr zweifelnden und unsicheren Part, den ich – gerade in Abgrenzung von den anderen Charakteren – schwer einordnen konnte! Ich dachte mir manchmal fast: Sie strahlt irgendwie eine Persönlichkeit aus, die ihrem Part auf der Bühne eigentlich nicht entspricht!
- Die Entwicklung des Stückes:
Es geht darum, dass Dante Alighieri im Alter von neun Jahren seine große, große Liebe Beatrice erblickt, fortan die “Herrin seines Herzens“. Und diese Liebe ist für ihn so groß, dass er sie niemandem kundtun will. Jahrelang behält er sie für sich. Wenn er sie kundtun würde, seine Liebe, denkt er, wäre sie in der Welt, wäre banal. Für ihn ist die Liebe gerade in ihrer stummen Abstraktheit unfassbar groß. Auch Beatrice wird nie davon erfahren. Die Liebe, er schreibt Sonetten für Beatrice, man hört sie, es wird der Bogen in unsere Zeiten gespannt, man hört Meat Loaf etc. (I would do everything for love). Die Spanne reicht von Musikklängen des Mittelalters bis zu modernsten Beatklängen.
Es kommt der Tod ins Spiel: Eine Freundin von Beatrice stirbt. Der Vater von Beatrice stirbt. Schließlich stirbt Beatrice selbst sehr früh! Und Dante Alighieri hat seine Liebe zu Beatrice nie geäußert! Auf der Bühne überlegen sie gemeinsam: Was ist Liebe? Ist Liebe in Gedanken schon ausreichend?
Dann geht es im „zweiten Teil“ des Abends um das Leben und den Tod insgesamt. Von einem dünnen Stahlarm, der von der hohen Bühnendecke herabragt, wird ein halb abgeblendeter heller Strahler auf die dunkle Bühne gelassen. Er wird leicht über dem Boden gehalten, dreht ganz langsam Kreise. Siehe das Beitragsbild oben! Langsam immer größer werdende Kreise im leichten Nebel: Der halb verdunkelte Kreisel könnte das Leben sein – hell und dunkel – oder gar das Leben und der Tod – immer im Kreis, Leben und Tod sind immer nah beieinander. „Alles fließt“. In mehreren stillen Minuten kann man den Kreisel so beobachten.
Dazu einer der schönsten Momente des Abends: William Cooper tanzt auf der dunklen großen Bühne, leichter Nebel wabert, der Kreisel zieht seine inzwischen größer gewordenen Kreise um ihn herum. William Cooper zeigt uns, was im Leben nur möglich ist: Tanzen. Das Leben leben. Diese Momente sind prägend für die Inszenierung, vielleicht prägend insgesamt für Inszenierungen von Christopher Rüping: An irgendeiner Stelle mischt sich bei ihm gerne „Theater“ mit „Performance“. Die Grenzen verschwimmen fast unmerklich! Hier zwei Fotos dieser Momente:


Im „letzten Teil“ des Abends dann tritt Viviane De Muynck als gealterte Beatrice auf. Was hat das noch mit Liebe zu tun? Nun, sie überlegen gemeinsam, ob dann noch, im Alter, Liebe im Spiel sein kann. Oder ist Liebe nur etwas in jungen Jahren? Viviane De Muynck sagt etwas, was vielleicht für sie rückblickend ihr vergangenes Leben war: Sie sagt, es sei ein Moment der Wachheit gewesen, dann sei sie wieder eingeschlafen.
Hier kommt noch einmal der Gedanke zur Sprache, warum Dante Alighieri gegenüber Beatrice nie äußert hatte, dass er sie liebte! Viviane De Muynck alias Beatrice sagt nur: “Es ist wie es ist! Wir stünden nicht hier, wenn es anders gelaufen wäre!“ „Du hättest nicht über mich geschrieben, es gäbe diese Geschichte nicht“, usw.
- Insgesamt:
Der Abend gewinnt in seiner zweiten Hälfte ganz entscheidend. Bis zur „Mitte“ hin ist alles teilweise langsam und mit wenig Entwicklung. Dantes „Vita nova“ wird entblättert. Das Grundsätzliche, das hinter allem steckt, öffnet sich in der zweiten Hälfte, aber umso schöner! Der Abend wird plötzlich sehr rund und verständlich! Er wird auch modern (auch durch die coole Musik bei William Coopers Tanz), er enthebt sich wunderbar aus der Geschichte von “Vita nova“. Ein Kritikpunkt vielleicht: Es überlappen sich zuletzt viele Gedanken: Die Liebe, der Tod, das Altern, die Kürze des Lebens, die Reue, etwas nicht getan zu haben … Fast zuviel.
Copyright der Bilder: Daniel Brüggemann, Ostkreuz
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