Ich hatte schon einmal darüber geschrieben: Über die Premiere von „Das Leben des Vernon Subutex“, inszeniert von Stefan Pucher, an den Münchner Kammerspielen. HIER mein damaliger Bericht. Ich fand es damals nicht überzeugend, hatte allerdings das Buch dazu noch nicht gelesen. Das habe ich jetzt nachgeholt und habe mir das Stück in den Kammerspielen wieder angeschaut. Heute geht es um Beides.
Meine Bewertung der Bücher (1 – 10): 📚📚📚📚📚📚📚📚📚 (9)
Es sind drei Bücher. Subutex 1 – 3. Geschrieben von der Französin Virginie Despentes, die früher unter anderem in Peepshows arbeitete. Sie erhält viele Auszeichnungen für Ihre Werke. Sie schreibt unverblümt und verdammt ehrlich, in klarer und derber Sprache, Umgangston in den Gesprächen. Den Milieus entsprechend, über die sie schreibt. Und nichts wirkt gekünstelt. Das mag ich, daher die neun Bewertungspunkte. HIER der Link zu ihrer Seite bei Wikipedia. 1200 Seiten. Die Süddeutsche Zeitung schrieb einmal zurecht etwas wie: „Man will jede Seite lesen“.
Ich habe es gewagt, die drei Bücher auf Französisch zu lesen. Französisch hatte ich vor vielen Jahren in einem Studiumsjahr in Lausanne gelernt. Es wurde immer besser: Für Buch 1 hatte ich noch die deutsche Ausgabe daneben liegen. Für Buch 2 hatte ich die Seite des Onlinewörterbuchs http://www.leo.org parat. Buch 3 konnte ich schon fast wie die deutsche Ausgabe lesen. Nachzuschauen waren allerdings immer wieder die derben Wörter der Umgangssprache.
Ein deutliche Eindruck, den ich vor allem beim Vergleich der deutschen und der französischen Ausgabe von Band 1 gewonnen hatte: Seltsamerweise liest sich die deutsche Übersetzung rüder, uncharmanter, derber, fieser. Das ganze ist natürlich inhaltlich und vom Schreibstil her rüde, uncharmant und derb. So soll es aber auch sein, das ist es, was man erlebt und liest, wenn man den „Vernon Subutex“ liest. Aber in der französischen Originalausgabe hat alles eine gewisse Eleganz. Es wirkt in keinem Satz irgendwie plump. Im Deutschen wirkt es einfach plump. Ein Beispiel? Das deutsche „ficken“ heißt „baiser“ auf französisch. Ist doch irgendwie galanter, finde ich. Also: Wer kann, sollte es unbedingt auf Französisch lesen!!
INHALTLICH: Vernon Subutex, seines Zeichens Plattenhändler aus Paris, ist ohne Dach über dem Kopf. Sein Plattenladen hat Bankrott gemacht. Er kommt zunächst bei FreundInnen unter, bevor er auf Parkbänken landet. Bei einer Freundin stößt er auf brisante Tonbandaufnahmen/Videos des gestorbenen Musikers Alex Bleach. Bleach erklärt, dass es der Produzent Dopalet war, der den Tod der Ex-Pornodarstellerin Vodka Santana verursacht hatte. Dopalet will an die Aufnahmen kommen, sie aus dem Verkehr ziehen. Die Tochter von Vodka Santana, Aïcha, rächt sich kurios an Dopalet. Und so weiter. Bei alledem entsteht ein Kult um Vernon Subutex, der immer noch als begnadeter DJ wirkt. Es eskaliert.
Also: Ein erfolgloser Drehbuchautor mit Amok-Phantasien (Xavier). Eine ehemalige Drogendealerin, die zum Internet-Troll umgeschult hat (La Hyäne). Eine Professorentochter, die zum Islam konvertiert (Aïcha) und ihr darüber verzweifelnder Vater (Selim). Ein drogensüchtiger Popstar (Alex Bleach) und sein Manager (Max). Ein koksender Trader (Kiko), eine obdachlose Hundeliebhaberin (Olga) mit großem Gerechtigkeitssinn und eine ehemalige Pornodarstellerin (Pamela Kant). Ein rechtsradikaler H&M-Verkäufer (Noël) und sein Kumpel (Loïc), eine einsame Staatsbeamtin (Emilie), ein krankhafter Frauenschläger (Patrice) und eine Kellnerin mit Talent zum Tätowieren (Celeste). Sie alle und mehr bevölkern das Leben des Vernon Subutex. Sie alle träumen von einem anderen besseren Leben, auf ganz unterschiedliche Weise.
SCHREIBSTIL: Einfach und einfach gut. Der Schreibstil und der Ton der Gespräche passen exakt zum Milieu, in dem alles spielt. Bei alledem erwischt man sich etwa auf jeder zehnten Seite dabei, von einem Thema zu lesen, das einen selber betrifft, eine Meinung zu hören, zu der man im Grunde auch etwas sagen kann, weil man sie kennt. Das liegt daran, dass Virginie Despentes viele Facetten unseres modernen Lebens schildert. Aus der Sicht von „unten“ – das Milieu des Buches – und immer wieder auch politisch. Lesen!
DAS THEATERSTÜCK: Wie gesagt, ich hatte schon darüber geschrieben. Damals dachte ich: „Das kann es doch nicht gewesen sein.“ Daher habe ich es gelesen und dann noch einmal angesehen. Und ich muss sagen: Die Inszenierung geht am Milieu vorbei, ist viel zahmer als das Buch, viel zu zahm. Aber es war eben eine Inszenierung von Stefan Pucher. Und Stefan Pucher bringt selten extrem Aufwühlendes. Er glättet mehr. So auch hier.
Gut, er versucht, den Ablauf der langen Geschichte um Vernon Subutex in dreieinhalb Stunden auf die Bühne zu bringen. Doch das Milieu und das Kulthafte der Erzählung gehen dabei meines Erachtens leider verloren. Auch die vielen sehr gelungenen Videoeinspielungen zeigen irgendwie ein anderes Milieu, als dasjenige, das Virginie Despentes schildert.
Hier eine Aufnahme der Inszenierung:

Und hier noch eine:

Schön ist wie immer der professionelle und coole Gesang von Jelena Kuliç, die Vernon Subutex spielt. Und schön kann es sein – wer darauf Wert legt – fast alle Ensemblemitglieder der Kammerspiele auf der Bühne zu sehen. Zur Bühne noch: Sie erschien mir bei dieser Inszenierung unpassend eng und klein. Warum nicht so groß, wie die Ideen der Personen im Buch, so groß wie Paris, so groß wie die Themen, über die geredet wird, warum so eng?
Die Inszenierung wird auch in der kommenden Spielzeit zu sehen sein. HIER der Link zur Seite des Stückes auf der Website der Kammerspiele. Mit einem Video zur Inszenierung.
Auf Spotify gibt es eine Playlist mit allen Songs, die von Virginie Despentes in den Büchern erwähnt werden. HIER der Link.
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