Es ist ein Theaterabend mit vielen vielen Eindrücken. Ein Eindruck etwa: Er hat es geschafft! Joachim Meyerhoff. Zurecht! Er spielt wunderbar, reibt sich auf als Dorfschullehrer Platonow – in Anton Tschechows „Die Vaterlosen“. Vor vielen Jahren war er Schüler der Otto-Falckenberg-Schule gewesen, der Schauspielschule der Münchner Kammerspiele.
Die damaligen Jahre hatte er bekanntlich köstlich beschrieben in seinem Buch „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“. Was muss das für ein Gefühl sein, er verbeugte sich nun – gestern zum ersten Mal (abgesehen von einer frühen Statistenrolle) – auf den Brettern der Bühne der Münchner Kammerspiele – am Ende einer Premiere vor dem Münchner Publikum! Und das nach einem so intensiven Theaterabend von mehr als drei Stunden – Premiere von Anton Tschechows „Die Vaterlosen“ – Claus Peymann saß im Publikum.
Es sind ohnehin Tage der „Rückkehr“: Sophie Rois etwa ist gerade an die Volksbühne am Rosa-Luxemburg -Platz in Berlin zurückgekehrt. (HIER ein Beitrag aus der SZ, HIER eine Besprechung des aktuellen Stückes). Auch ihn, Joachim Meyerhoff, kennt man gut, er ist ein mittlerweile höchst erfolgreicher Schauspieler, derzeit im Ensemble der Schaubühne, Berlin. Dort auch übrigens derzeit in der Arbeit an einem weiteren Stück von Anton Tschechow, „Die Möwe“ (HIER der Link zur Stückeseite auf der Website der Schaubühne).
Ein weiterer Eindruck: Es ist endlich wieder einmal ein Theaterabend „des Theaters wegen“, nicht „der Politik wegen“! Und schon wird man in seinen Gedanken freier, mutiger, nicht getrieben von den „engen“ Themen der politischen Gegenwart oder der Vergangenheit. Überspitzt könnte man ohnehin sagen: Es ist ja die Politik, die im Grunde immer schon alles kaputt macht, die uns blind macht, das Theater dagegen versucht zu retten, denn Theater „macht“ nicht, Theater „zeigt“. Zeigt Freiräume, Gedanken, Zustände …, öffnet die Augen! Gleich stellte man sich auch hier bei Tschechow Fragen etwa wie: Gilt das, was Anton Tschechow da zeigte, heute noch? Dazu weiter unten.
Ein dritter Eindruck: Die Inszenierung. Es ist die erste Arbeit von Jutta Steckel an den Münchner Kammerspielen. Sie ist derzeit Hausregisseurin am Hamburger Thalia Theater. Aus dem so großen Text von Anton Tschechow – fast 200 Seiten – hat sie einen dreistündigen Abend gemacht. In gewisser Weise dreigeteilt: In der ersten Stunde spielt sich alles vor der schwarzen Bühnenwand, dem Eisernen Vorhang, ab (auch im Zuschauerraum). In der zweiten Stunde spielt sich alles auf der tiefen dunklen Bühne ab, auf der Hochzeitsfeier des jungen Paares und in einem „Wald“ aus über 1000 Fiberglasstangen. In der dritten Stunde hat sich der Wald zurückgezogen. Jeder der drei Teile hat einen sehr eigenen Charakter. Gespielt wird von durchgehend wirklich sehr überzeugenden SchauspielerInnen, besonders überzeugend von Joachim Meyerhoff, der sich wie gesagt als zunehmend in Verwirrung geratender Platonow wahrlich verausgabt. Aber auch von Katharina Bach, Wiebke Puls, Thomas Schmauser … im Grunde spielen alle schlicht überzeugend. Ein schöner Schauspielabend!
Ein vierter Eindruck: Beeindruckend ist das Bühnenbild, wenn auch mit den Stangen im Laufe des Abends auf verschiedenste Arten etwas sehr viele besondere Effekte herbeiproduziert werden. Einem ökologisch denkenden Menschen dürfte außerdem der Wald von über 1000 Fiberglasstangen nicht unbedingt gefallen haben!
Ein fünfter Eindruck: Die Inszenierung schafft eine Verbindung zum Heute „nebenbei“ angenehm dadurch, dass an manchen Stellen des Stückes kurze weitgehend vielleicht improvisierte Gespräche, sogenannte „Dad Men Talkings“, über das Thema „Väter“, „Generationen“ und anderes stattfinden. Der Dramaturg Carl Hegemann unterhält sich darüber in kleinen Gesprächen auf der Bühne in jeder der noch kommenden Aufführungen mit einem anderen Überraschungsgast.
Ein sechster Eindruck: Das Stück selbst. Man verfolgt – neben dem Aspekt der „Vaterlosigkeit“ – die von allen Seiten hilflosen Versuche, Liebe zu zeigen, sie zustande zu bringen, sie abzuwehren, und und und. Es herrscht überall Orientierungslosigkeit. Fast ein weiteres Thema ist etwa auch das Verhältnis der älteren Generation hin zur jungen Generation. Anton Tschechow wollte mit dem Titel des Stückes allerdings wohl den Schwerpunkt besonders auf die „Vaterlosigkeit“ legen.
Das lässt sich erklären, es ist aber auch fraglich, da es im Stück mindestens genauso gut um die anderen genannten Themen geht. Anton Tschechow selbst war damals, als er hier sein erstes Werk schrieb, gerade „vaterlos“. Sein Vater hatte auf der „Flucht“ vor seinen Gläubigern die Stadt verlassen und den Sohn Anton wegen dessen Schulabschluss alleine zurückgelassen. Und Tschechow war damals gerade verliebt. Das große Panoptikum der verschiedenen Reaktionen und Meinungen in diesem Stück zu all diesen Themen gibt genug Anlass, die vielen Probleme zu erkennen.
Ein siebter Eindruck: Zeitgemäß? Daran werden sich die Geister scheiden! Das ist auch die Schwierigkeit des trotzdem so gelungenen Abends: Man könnte sich durchaus immer wieder sagen: „So, wie es von Anton Tschechow spitzfindig dargestellt ist, findet es heute alles nicht mehr statt!“ Stimmt sicherlich an vielen Stellen, trotzdem: Besonders die Fragen zum Verhältnis der Generationen zueinander bleiben: Was übernehmen wir von unseren Vätern? Wollen wir etwas übernehmen? Sind wir orientierungslos ohne sie? Was haben wir übernommen? Wollen oder sollen wir lieber „die Nabelschnur durchtrennen“? Übernehmen wir zu wenig von den Vätern? Wollen Väter immer alles weitergeben? Halten Väter nicht immer das, was sie gelebt haben, für richtig? Und und und. Der Umgang mit Liebesgefühlen – dem weiteren „Thema“ – ist dagegen heute wohl ziemlich anders!
Alles wird dabei getragen von wunderbaren SchauspielerInnen. Ist es die Figur des immer distanzierten, sarkastischen, immer verrückter werdenden Platonow, in der die meisten persönlichen Elemente von Anton Tschechow selbst enthalten sind? Auch er, Platonow (großartig: Joachim Meyerhoff), ist im Stück „vaterlos“. Die junge Generalswitwe Anna Petrowna Wojnizewa (wie immer souverän Wiebke Puls) ist zumindest „ehemannlos“, ihr Gut soll versteigert werden. „Vaterlos“ ist auch der Sohn des verstorbenen („Generalswitwe“) Generals, Sergej Pawlowitsch Wojnizew (Bernardo Arias Porras). Nicht vaterlos ist dagegen Sascha (Edith Saldanha), die Frau von Platonow, ihr Vater ist Oberst Triletzki (amüsant überspitzt Walter Hess). Der junge Arzt Triletzki (Martin Weigel) ist der Bruder von Sascha. Auch er hat also noch seinen Vater. Dabei sind außerdem noch der neureiche Glagoljew (wieder gut Edmund Telgenkämper), Sofia, die Frau von Wojnizew (wieder sehr gut Katharina Bach), der Pferdedieb Ossip (wieder sehr skurril Thomas Schmauser) und weitere.
Platonow sagt einmal: „Was ist nur aus uns geworden? Lausige Kreaturen, die von einer Ecke zur anderen kriechen, ziellos, ratlos.“ Auch ein Gedanke, den man mit sich trägt nach diesem doch auch langen, aber am Ende hoch überzeugenden Abend.
Ein letzter, achter Eindruck: Es ist grenzwertig „viel drin“ in dieser Inszenierung! Schauspielerisch hoch engagiert, dazu der Dad Men Talk, dann Livemusik, dann noch ein kleiner genereller Monolog mit aktuellen Bezügen (Text von Katja Brunner), schließlich die Themen, die vielfältigen Handlungen der Personen, das Bühnenbild, sich drehende Bühnenscheibe … sehr sehr viel, trotzdem!
Hier noch ein Bild:

Copyright der Fotos: Armin Smailovic
HIER der Link zur Stückeseite auf der Website der Münchner Kammerspiele.
Leave A Reply