Die Gesellschaft beobachten, das kann Byung-Chul Han. Speziell mit unserer neoliberalen, rein kapitalistischen Lebensform geht er dabei oft hart ins Gericht und blickt scharfsinnig auf deren Zustände und Entwicklungen. Kritische Blicke sind immer gut und notwendig! Auch in dem Buch „Vom Verschwinden der Rituale“ geht es um den Zustand der neoliberalen Gesellschaft.
Es geht aber nicht etwa um eine nostalgische „Verteidigung“ von Ritualen. „An ihr (der Genealogie des Verschwindens der Rituale) entlang „zeichnen sich vielmehr die Pathologien der Gegenwart ab.“ Das schlanke Büchlein ist in zehn kleine Kapitel unterteilt. Ich fasse sie hier einzeln – sicher etwas vereinfachend – zusammen:
- 1. „Zwang der Produktion“: Es beginnt damit: Auf der ständigen Jagd nach neuen Reizen, Erregungen und Erlebnissen verlieren wir die Fähigkeit zur Wiederholung. Es muss immer etwas Neues sein. Gerade auch den neoliberalen Credos wie Authentizität, Innovation oder Kreativität wohne ein permanenter Zwang zum Neuen inne. Sie erzeugen letzten Endes nur Variationen des immer Gleichen. Das Alte, das Gewesene, das eine „erfüllende Wiederholung“ zulasse, werde beseitigt, denn es stelle sich der Steigerungslogik der Produktion entgegen. Wiederholungen aber stabilisieren das Leben. … Wiederholungen sind tief, nicht flach. Und: Das neoliberale Regime vereinzele die Menschen. … Der Zwang der Selbstproduktion rufe eine Krise der Gemeinschaft hervor.
- 2. „Zwang der Authentizität“: Dann: Jeder performe sich immer mehr selbst. Narzisstische Störungen nehmen heute deshalb zu, weil wir immer mehr den Sinn für soziale Interaktionen außerhalb der Grenzen des Selbst verlieren. Der Kapitalismus sagt uns: Produziere Dich!
- 3. „Rituale des Schließens“: Alles ist additiv, nichts ist final. „Additiv“ oder „narrativ“ stellt Byung-Chul Han gegeneinander. Wir kennen keinen „Schluss“ mehr: Ohne die Negativität des Schlusses komme es aber zur endlosen Addition und Akkumulation des Gleichen, zum Übermaß der Positivität, zur „adipösen Wucherung der Information und Kommunikation“. Alles bleibe vorläufig und unfertig. Die Unfähigkeit zum „Abschluss von etwas“ habe mit Narzissmus zu tun. Denn das Getane, das Abgeschlossene stehe ja als Objekt fertig für sich, unabhängig vom Selbst. Daher vermeide das Subjekt, etwas zum Abschluss zu bringen.
- 4. „Fest und Religion“: Jetzt die Kritik am Arbeitswahn der neoliberalen Gesellschaft: Kann uns die reine Form, das nutzfreie Spiel, das Ritualisierte, helfen oder retten? „Angesichts des zunehmenden Zwangs der Produktion und Leistung sei es eine politische Aufgabe, vom Leben einen anderen, spielerischen Gebrauch zu machen. Das Leben erhalte das Spielerische nur zurück, wenn es sich, statt sich einem äußeren Zweck zu unterwerfen, auf sich selbst bezieht. Fest und Religion seien ohne den Zwang zur Produktion. Zurückzugewinnen sei nämlich die kontemplative Ruhe. Wird dem Leben nämlich gänzlich das beschauliche Element genommen, so ersticke man im eigenen (additiven) Tun. Der Sabbat weise etwa darauf hin, dass die kontemplative Ruhe, die Stille essenziell für die Religion ist. Wir erkennen das Leben nur in der Ruhe, im nutzfreien Spiel. In dieser Hinsicht sei die Religion etwa dem Kapitalismus „diametral entgegengesetzt“. Der Kapitalismus liebt die Stille nicht. Die Stille wäre der Nullpunkt der Produktion, im postindustriellen Zeitalter, der Nullpunkt der Kommunikation. Also: Der Kapitalismus führt uns am Leben vorbei.
- 5. „Spiel um Leben und Tod“: Spiel? Warum Spiel? Das Leben insgesamt sollte mehr Spiel sein, nur dann sei es das „Leben“! Spiel hat Regeln, ist Ritual, hat aber keinen Inhalt. Die Glorie des Spiels gehe mit der Souveränität einher, die nichts anderes bedeute, als frei sein von Notwendigkeit, vom Zwang und Nutzen.“ Man unterscheide zwei Arten von Spiel, das starke und das schwache Spiel. Nur das schwache Spiel sei anerkannt in einer Gesellschaft, in der das Nützliche das vorherrschende Prinzip geworden ist. Das starke Spiel hingegen lasse sich nicht mit dem Prinzip der Arbeit und Produktion vereinbaren. Es setze gar das Leben selbst aufs Spiel. Souveränität zeichne es aus.
- 6. „Ende der Geschichte“: In diesem kurzen Kapitel geht Byung-Chul Han noch drastischer davon aus, dass der Mensch „das Resultat seiner eigenen Arbeit“ ist. Er zitiert auch andere Philosophen. Hegel etwa erfasse die Arbeit geradezu als das „Wesen des Menschen“. Er gibt dann noch einen Schritt weiter: Nur durch Arbeit entstehe für den Menschen überhaupt „Geschichte“: Die schöpferische Erziehung des Menschen durch die Arbeit (auch die Bildung) schaffe die Geschichte, d.h. die menschliche Zeit. Und er geht dann noch einen Schritt weiter: Das Leben als Arbeit finde sein Ende wiederum nur im „rituellen Leben“. Hier kommt er auf die Japaner, die schon sehr rituell leben. Denn Rituale setzen einen frei vom Diktat der Arbeit.
- 7. „Reich der Zeichen“: Auch die Sprache unterliege ja, zeigt er dann, dem Diktat der Arbeit. Sprache solle heute nur noch „arbeiten“, Information vermitteln, nicht etwa „spielen“! Eine Art Kernkapitel des Buches. Ein Gedicht wäre etwa Spiel. Der Gegensatz zwischen Inhalt und Form wird hier von Byung-Chul Han klar formuliert. Rituale seien reine Form, eine Geschenkverpackung, ohne Aussage. Demgegenüber trete der Inhalt schnell moralisierend auf. Die Form nicht, sie sei nicht Moral, der Inhalt aber, der wolle meist Moral sein. Die Tendenz sei heute: Es zählt nur der Inhalt, das Moralisieren, die Form spiele keine Rolle mehr. Das führe wiederum zur Verrohrung und zum Verlust der Form! Es kommt ja auf den Inhalt an, die Form ist egal, sagt man sich. Auch Verlust der Höflichkeit etwa. Und so kommt es auch zum Verlust des „gemeinsamen Nenners“ einer Gesellschaft. Laut Byung-Chul Han ist „eine Ethik der schönen Formen zu verteidigen“.
- 8. „Vom Duell zum Drohnenkrieg“: Sogar Kriege, zeigt er noch auf, waren früher „Spiel“, getragen von Form und Regel, sie waren damit auch getragen von „Respekt“ vor dem Gegner. Sie waren gleichberechtigter Kampf mit Regeln und Schicksal. Heute? Krieg sei nur noch Verbrecherjagd! Vor allem Drohnenkriege: Die Degradierung und Inkriminierung des Gegners zum Verbrecher sei heute die Voraussetzung für die gezielte Tötung, die einer Polizeiaktion gleiche. Die duale Beziehung zwischen den Kampfgegnern wird aufgehoben.
- 9. Vom Mythos zum Dataismus: Schweres Kapitel. Das Datenzeitalter ist Totalwissen, aber auch Totalkontrolle. Mythos war früher „Erzählung“, Dataismus sei nur noch „Zählung“. Der Mensch gibt das Denken ab. Auch das Denken, selbst das Philosophieren, hatte früher Spielcharakter, Wettkampfcharakter. Dataismus ist heute dagegen reine Produktion, immer mehr. Denken war früher Wettkampf und Verführung, Dataismus heute dagegen sei nur noch „Porno“ (siehe nachfolgend).
- 10. Von der Verführung zum Porno: Zuletzt zeigt Byung-Chul Han noch, dass das Verschwinden der Rituale sich heute auch im Sexuellen zeigt. Früher gab es noch die Verführung als einen „rituellen Zweikampf“. Ein ritueller Zweikampf mit Machtelementen, aber ohne intime Psychologie, nur mit „Fantasie für den Anderen“. Diese Fantasie verschwindet durch den Porno heute. Die pornographische Lust sei wiederum nur noch Produktion, ohne Geheimes, narzisstisch. Und: Alles wird sichtbar, nichts bleibt Schein oder Fantasie.
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