Ich habe jetzt auch noch das Buch gelesen: „Erinnerung eines Mädchens“ von Annie Ernaux. Die deutsche Version und daneben die schöne französische Version. Zum Buch ist derzeit im Münchner Marstalltheater ein „Theaterstück“- oder besser: eine „Performance“ – zu sehen. Über den Abend im Marstalltheater hatte ich kürzlich auch geschrieben (HIER). Der letzte Satz des Abends hatte – fand ich damals gut – etwas mit „Hoffnung“ zu tun, ich wusste aber nicht mehr genau den Wortlaut.
Wo der Satz steht, habe ich jetzt gesehen: Mitten im Buch, auf Seite 94. In der französischen Version auf Seite 88. Annie Ernaux überlegt dort, was sie antreibt, die Vergangenheit wieder heranzuholen. Der Satz lautet: „Was, wenn nicht die Hoffnung, dass es zumindest eine Spur von Ähnlichkeit gibt zwischen diesem Mädchen, Annie D, und irgend wem anders.“
Ich finde das Buch besonders, es ist lesenswert. Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux führt zu einer Frage, die wirklich interessant ist: Was hat man früher eigentlich wie erlebt? Man kannte die Zukunft ja noch nicht. Sie geht in ihrem Buch dieser Frage anhand eines kurzen Zeitraumes ihres eigenen Lebens nach.
Annie Ernaux kommt im Alter von heute über 80 Jahren tatsächlich nicht umhin, über diesen kurzen Zeitraum im Sommer 1958 – und etwa ein/zwei Jahre danach – zu schreiben. Es waren sehr entscheidende Jahre für sie. Alles kam wahrscheinlich in ihrem Leben danach erst einmal anders, als gedacht.
Wichtig ist: Es geht ihr beim Schreiben über diese Zeit nicht etwa darum, eine „Erzählung“ zu schreiben, ein Geschehen zu beschreiben, sondern darum, nachzuforschen, wie sie sich selbst in dieser Zeitspanne, als sie gerade 18 Jahre alt war, gefühlt hat. Kann man das überhaupt noch herausfinden, ohne es mit nachträglichen Erfahrungen zu vermischen?
Man könnte ja sagen, soll sie doch zum Psychiater gehen. Aber es ist ein Unterschied: Ein Psychiater würde eben aus heutiger Sicht überlegen: „Wie kann Frau Ernaux damit umgehen?“ Sie aber möchte in diesem Buch wissen: „Wie war ich damals?“ Sie möchte sich in der damaligen Zeit näher kommen, sich wiedererkennen, sich kennen lernen. Und ihre Technik dazu ist folgende: Sie möchte Gegenstände sehen – Erinnerung durch Gegenstände, sie sieht sich alte Fotos an, sie liest alte Briefe, sie definiert Gegenstände von damals.
Darum geht es:

Annie Ernaux hat damals Dinge erlebt, die – ohne es damals zu wissen – ihr künftiges Leben prägten: Annie Ernaux war in einfachen und geradezu ängstlichen Verhältnissen aufgewachsen. Sie sollte es nach dem Wunsch ihrer Eltern „einmal besser haben“. Ihre Eltern behüten sie extrem. Sie geht auf eine katholische Schule. Kurz vor ihrem 18. Geburtstag konnte Annie erstmals in ihrem Leben quasi dieser Enklave der Umsorgung und des Schutzes entkommen, etwas alleine unternehmen. Sie konnte als jüngste Betreuerin in einem Ferienlager für junge Schulkinder arbeiten. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Für sie war es zum ersten Mal in ihrem Leben der Sprung ins Leben. Sie war hoch ambitioniert. Sie wollte feiern, endlich junge Menschen kennen lernen, das Leben kennen lernen, sich kennen lernen. Es ging schief. Auf einer Party der Betreuer und Betreuerinnen des Schullandheims machte sich dann sehr bald der Leiter des BetreuerInnenteams – H – an sie ran. Er verführte sie, sie verbrachten die Nacht miteinander. Annie nahm es hin, fand es spannend, schämte sich nicht. Danach zog sich H aber komplett von ihr zurück. Offensichtlich hatten auch die anderen Betreuer und Betreuerinnen mitbekommen, dass sie die Nacht mit dem „Chef“ verbracht hatte. Sie wurde ab dieser Nacht quasi verpönt. Kurze Zeit später geschah Ähnliches. Annie verbrachte eine weitere Nacht mit einem der Betreuer. Für sie war es immer noch hoch spannend! Sie schämte sich wieder nicht, es war Freiheit und ein Drang nach Sex, Freiheit, Grenzenlosigkeit. Sie war völlig orientierungslos und ohne jede Erfahrung. Sie ließ sie es gefühllos geschehen. Man sprach von ihr schnell als „kleine Nutte“. Mehr und mehr merkte sie andererseits, dass sie den Betreuerchef H abgöttisch liebte – oder bildete es sich ein. Vielleicht, weil sie bis dahin dachte: „Wenn ich zum allerersten Mal mit jemandem schlafe, das muss doch wahre Liebe sein!“ Es kam noch zu einer weiteren Nacht mit H. Er zog sich aber auch dann wieder sofort von ihr zurück. Sie hat ihn nie mehr in ihrem Leben gesehen. Annie dagegen meinte, sie seien doch jetzt ein Liebespaar. Ihre Orientierungslosigkeit. Die Demütigungen.
Auch nach Ende des Schullandheims waren ihre nächsten Jahre geprägt von ihrer Liebe H. Sie hat immer wieder H vor Augen, wusste, dass er in Rouen lebte, wo sie eine Ausbildung machte, wollte ihn aber nur „zufällig“ treffen. Sie bereitet sich vor auf ihn, lernte Dinge, nahm ab, bildete sich etc. Aber sie wurde im Folgejahr nicht mehr im Schullandheim angenommen! Sie sah H dann nie wieder. Sie entwickelte eine Essstörung, Bulimie.
Sie machte eine Ausbildung zur Grundschullehrerin, H war schließlich Grundschullehrer gewesen! Sie brach die Ausbildung aber ab, man sagte ihr, sie sei ungeeignet. Sie verbrachte als Au-Pair Mädchen eine Zeit in London. Auch dort eigenartige Erlebnisse. Danach begann sie mit einem Literaturstudium. Das war ihr neuer Weg, ein Weg, der ihr wohl entsprach. Vielleicht kann man sagen, sie hat die Kurve gekriegt. Annie Ernaux.
Die Zeiten der abrupten Freiheitsgier, der absoluten Orientierungslosigkeit und der Demütigungen – auch sozial. Es saß wohl das Leben lang in Annie Ernaux.
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