Silvia Costa und Annie Ernaux – die Namen zweier Frauen, denen man jedenfalls in Münchens Theaterszene bislang nicht begegnet ist. Interessant, diese beiden Personen jetzt in Form der Inszenierung „Erinnerung eines Mädchens“ am Münchner Residenztheater (Werkraum) zu „erleben“.
Annie Ernaux wird genannt als eine der „bedeutendsten französischen Schriftstellerinnen der Gegenwart“. Sie ist mittlerweile über 82 Jahre alt und schreibt/schrieb sehr autobiografisch. Man hört ihren Namen in einer Reihe mit dem französischen Philosophen Didier Eribon, auch mit Edouard Louis, die ja beide aus französischer Sicht sehr sozialkritisch und gesellschaftskritisch unterwegs sind. In mehrfach preisgekrönte Werken näherte sich Annie Ernaux etwa ihrem Vater („La Place“, Der Platz, 2019) und ihrer Mutter („Une femme“, Eine Frau, 2019). Sehr autobiografisch und immer auch gesellschaftskritisch. Das Ehepaar, ihre Eltern, aus einfachen Verhältnissen der damaligen Zeit. Auch häusliche Gewalt und soziale Scham sind Themen ihrer Werke.
Ganz anders Silvia Costa. Sie ist Italienerin, gerade einmal 39 Jahre alt. Als Regisseurin Bühnenbildnerin und Darstellerin ist sie schon an vielen europäischen Orten tätig gewesen. Theater, Oper, Performance, Installationen, Videoarbeiten, das sind ihre Bereiche. Eine ganz andere Generation als die Generation von Annie Ernaux. Silvia Costa ist jetzt für “Inszenierung und Bühne“ von „Erinnerung eines Mädchens“ an das Münchener Residenztheater gekommen.
Es ist ein Abend im Werkraumtheater. Die kleine Bühne des Werkraum ist schlicht gehalten und strahlt Klarheit, fast Eleganz aus. So auch der Abend. Der erste Bühneneindruck passt zur Inszenierung von Silvia Costa. Eine dunkelblau gehaltene Wand im Hintergrund, darin links neben einer Tür eine sehr lang gezogene recht schmale Wandöffnung auf Brusthöhe, zwei Türen, alles schlicht gehalten, dünn gerahmt, zwei Lampen am Boden, eine alte Stereoanlage, sonst im Grunde nichts.
Langsame Bewegungen, relativ langsame Sprache, nicht viel Aktion auf der Bühne, einzelne Gegenstände werden herangezogen. So erlebt man diesen Abend. Drei Frauen, die gleichzeitig im Zusammenspiel miteinander Annie Ernaux repräsentieren. Sybille Canonica, Juliane Köhler, Charlotte Schwab, alle drei meist sehr ähnlich gekleidet. Annie Ernaux erzählt an diesem Abend von einer Erinnerung, die sie ihr Leben lang nicht losließ. Erlebnisse von ihr als jungem Mädchen. Sie nennt das Mädchen „Mädchen von 58“. Es war 1958.
Ja, es geht auch um einzelne Gegenstände. Einen Schal, Sommersandalen, einen Rock, andere Kleidungsstücke, eine Art Badetuch und und und. Es ist in der Tat Annie Ernauxs Technik, sich der Vergangenheit zu nähern: Gegenstände zu nehmen, aus denen sie ihre Erinnerung entwickelt. Nicht um etwas zu erfinden, sondern um sich selber zu finden. Sich als das „Mädchen von 58“ zu finden, sich ihm anzunähern.
Und nicht nur, um eine Geschichte zu erzählen. Es geht nicht nur um ein Erlebnis: Es geht in der feinen Sprache von Annie Ernaux, in der feinen und ruhigen, sehr konzentrierten Wortwahl des Abends im Kern der Erzählungen immer um Folgendes: „Wer bin ich? Wer war ich? Hat meine heutige Erinnerung und meine heutige Person noch etwas mit der damaligen Person zu tun? Hat die damalige Person, an die ich mich erinnere, heute noch etwas mit mir zu tun? Kann ich mich überhaupt wirklich erinnern? Ist das „Mädchen von 58“ wirklich ich? Was bedeutet die Erinnerung? Ich habe die Dinge ja damals schlicht erlebt.
Man sitzt in den Zuschauerreihen und kann kaum umhin, an seine eigene Vergangenheit zu denken. Wer war man? Wie hat man die Dinge damals erlebt? Was ist noch heute Teil des eigenen Lebens?
Annie Ernaux erzählt von ihrer ersten sexuellen Begegnung – von Macht, Ohnmacht und Unterwerfung. Von einer Wunde, die niemals ausheilte. Annie Duchesne wurde 18 Jahre alt, arbeitete im Sommer 1958 als Betreuerin in einer Ferienkolonie, fand in eine Clique, sie genossen ihre Jugend, sie war in H. verliebt, mit ihm hatte sie ihr erstes Mal. Eine Nacht, die einen anhaltenden Schock bedeutete. Auch weil H. sie fortan ignorierte, weiß sie nicht, wohin mit sich und lässt sich auf andere ein. Schnell war sie verfemt. Was folgte, waren Ausgrenzung, der Hohn der anderen, ihre eigene Scham. Und Schweigen. Über 55 Jahre brauchte Annie Ernaux, um sich dieser »Erinnerung der Scham« stellen zu können. Diese Erinnerung war immer Teil ihres Lebens!
Es ist ein ruhiger, schöner, in keiner Weise wilder oder aufrührender Abend. Man denkt an seine eigene Vergangenheit. Der Abend endet mit einem Satz, in dem es – auch schön – um Hoffnung geht. Etwa: Was bleibt, ist die Hoffnung, dass die Person, an die ich mich erinnere, wirklich etwas zu tun hat mit mir. Oder so ähnlich. Ich kann ihn leider nicht mehr zitieren, Der Satz war etwas anders. Ich werde das Buch lesen und vielleicht wieder auf den Satz stoßen. Dann korrigiere ich ihn hier.
Der Abend ist fast eher eine Performance, als ein Theaterstück. Jedenfalls schafft es Silvia Costa, die Gedanken von Annie Ernaux aus dem Buch “Erinnerung eines Mädchens“ schlicht und fein auf die Bühne zu bringen. Es passt und regt zum Denken an.
Copyright des Beitragsbildes: Sandra Then
Leave A Reply