Ich hatte vor Jahren einen Roman von Saša Stanišić gelesen und fand ihn sehr gut: „Vor dem Fest“ hieß er. Saša Stanišić hatte – ich glaube 2016 – dafür den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten. Jetzt habe ich sein neuestes Werk gelesen. „Herkunft“ heißt es.
Meine Bewertung (1 – 10): 📚📚📚📚📚📚 (6)
Saša Stanišić schreibt an einer Stelle: „Bin das ich? Sohn meiner Eltern, Enkelsohn meiner Großeltern, Urenkel meiner Urgroßeltern, Kind Jugoslawiens, geflüchtet vor einem Krieg, zufällig nach Deutschland. Vater, Schriftsteller, Figur. Bin das alles ich?“ Genau darum geht es. Saša Stanišić erzählt von seiner Herkunft. Nicht nur von der jugoslawischen Heimat, seinem Geburtsort, nein, vielmehr von seinen Erinnerungen, seinen Vorfahren, seinem Lebensweg, dem Lebensweg der Vorfahren. Das ist für ihn Herkunft.
Saša Stanišić schreibt in vielen kleinen Kapiteln über all das. Er schreibt immer wieder über Erlebnisse und Erinnerungen, über Personen seiner Zeit in Jugoslawien und in Deutschland.
Inhaltlich: Geboren ist er am 7. März 1978 („Ich bin in einem Land geboren, das ist nicht mehr gibt.“) – die Flucht der Mutter mit den Kindern vor dem Krieg in Jugoslawien nach Deutschland 1992 („1991 waren Zugehörigkeiten ein Zündstoff geworden.“) – der Vater kam ein halbes Jahr später nach, die Großeltern kamen 1995 nach Deutschland – sie lebten zunächst in einem Flüchtlingslager in der Nähe von Heidelberg – die Eltern mussten Deutschland 1998 wieder verlassen, wanderten nach Florida aus – seine Fahrt in sein Heimatdörfchen Višegrad 2009 – Besuch eines Friedhofes in Oskoruša – Besuch der Ruine des Hauses seiner Urgroßeltern – zunehmend geht es im Verlauf des Buches um den Tod seiner Großmutter – der Besuch der Großmutter in Višegrad 2018 – die Großmutter stirbt im November 2018 – Saša Stanišić lebt aktuell in Hamburg. Das ist der Rahmen für viele kleine Erzählungen.
Es geht hin und her in den Jahren, hin und her zwischen den Personen. Manchmal nicht leicht, ich habe das Buch mehrfach durchblättern müssen, um einen Überblick zu bekommen. Ich rate dazu an, sich die Personen und Jahreszahlen im Text immer wieder kenntlich zu machen, zu markieren, dann geht das Buch auf. Saša Stanišić kommt augenscheinlich – und verständlicherweise – selber nicht leicht damit zurecht, in Deutschland/Hamburg zu leben und eine völlig andere Herkunft zu haben. Geboren in einem Land, das es nicht mehr gibt.
Der Stil des Buches: Saša Stanišić erzählt von absolut höchstpersönlichen Erlebnissen, Erinnerungen, dennoch ist das Buch nicht getragen von Emotionen. Ganz im Gegenteil: Es ist geprägt von einer nüchternen, melancholischen und irgendwie auch fast traurigen Schreibweise. Kurz gehaltene Aussagen. Nach dem Motto fast: „In was bin ich da nur reingeraten?“ Gerade das macht es aber aus. Es schwingt auch immer eine Art Traurigkeit über den Verlust Jugoslawiens mit. Manchmal allerdings etwas kompliziert geschrieben, dachte ich. Aber Stanišić kann schreiben!
Ich habe mir, wie so oft, der Übersichtlichkeit halber eine Übersicht dazu erstellt. Alles auf einen Blick. Hier kann man sie herunterladen und zum Lesen dazunehmen:
Das Buch hat dann leider am Ende einen Teil, den ich nicht mochte: Der Leser wird angehalten, sich Stück für Stück selber zu entscheiden, wie und wo er weiter lesen will. Jeder findet damit sein eigenes Ende. Warum er das macht, erschließt sich mir nicht. Interessant ist daran allerdings, dass sich Wirklichkeit und Phantasie vermischen. Es geht in diesem letzten Teil des Buches um die Frage: Wie endete das Leben der Großmutter?
Sechs Punkte vergebe ich nur, da ich das Gefühl hatte, dass ich beim ersten Durchlesen viel zu viel überlesen hatte. Ich hatte die zeitliche Orientierung verloren und bin über viele schöne Beschreibungen irgendwie hinweggehuscht.
HIER ein interessantes Gespräch auf ARD mit Saša Stanišić über sein Buch „Herkunft“.
HIER liest Saša Stanišić aus seinem Buch „Herkunft“. Man lernt ihn und ein wenig (10 Minuten) aus seinem Werk „Herkunft“ kennen.
HIER die Seite des Luchterhand Verlag es zu Saša Stanišić’s Buch „Herkunft“.
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