Am Mittwoch, den 23.11. 2022, war Premiere an den Münchner Kammerspielen. Genau 30 Jahre nach den rassistischen Brandanschlägen auf die Wohnhäuser von mehreren aus der Türkei eingewanderten Familien in Mölln. Nuran David Calis nimmt dies zum Anlass, im Grunde sehr krass über die Erinnerungskultur in Deutschland nachzudenken und ein Stück zu entwickeln. Das Stück „Das Erbe“, das jetzt an den Münchner Kammerspielen seine Uraufführung hatte.
Die Inszenierung ist Teil des derzeit an den Münchner Kammerspielen laufenden „Erinnerungsfestivals“ – „Erinnerung als Arbeit an der Gegenwart“. An rund 50 Tagen will man mit Aufführungen und Aktionen verschiedenster Art „zur Erinnerungsarbeit beitragen“. HIER der Link zur Seite des Erinnerungsfestivals auf der Website der Münchner Kammerspiele.
Der Ansatz dieses Stückes sollte sein: Warum beschäftigen wir uns so wenig mit den Gefühlen der betroffenen türkischen Einwanderer, wenn es um rassistische Gewalt gegen sie geht. Warum beschäftigen wir uns mehr mit den Tätern, als den Opfern? Wie erleben/erlebten türkische Einwanderer derartige rassistische Angriffe? Wie erleben Sie Deutschland? Gute Fragen! „Deren Geschichten müssen angehört werden“, heißt es auch zurecht ganz am Schluss – bevor man nach dem Applaus auf der großen Leinwand auch sehr zurecht die Namen vieler Opfer rassistische Gewaltangriffe sieht!
Der Ansatz ist gut. Mit dem Stück „Das Erbe“ – „Eine Tragödie in drei Akten von Nuran David Calis“ – wurde etwas versucht, es blieb aber fragwürdig. Vielleicht sollte es gerade deswegen angesehen werden. Bilden Sie sich eine eigene Meinung!
Das Stück ist meines Erachtens aber fragwürdig, weil:
Zum Ersten: Ist Theater der richtige Platz für eine intensive Beschäftigung mit Erinnerungskultur? Wird Theater damit nicht zu politisch? Zu realistisch? Natürlich darf Theater und muss Theater manchmal politisch werden. Schon Shakespeare war politisch. Ich persönlich mag es aber, wenn man im Theater politisch nicht zu sehr bedrängt wird. Für politische Thematisierungen gehe ich im Grunde nicht gerne ins Theater. Aber andererseits: Augen auf! Im Grunde ist das Theater doch für alles offen!
Fragwürdig zum Zweiten: Nuran David Calis‘ Stück enthält – aus der Sicht der in Istanbul lebenden Tochter einer reichen türkischen Einwandererfamilie – unglaublich krasse und direkte Vorwürfe gegen das „Scheißland“ Deutschland und auch gegen eine nicht erfolgte Integration. Wir würden sie irgendwann ohnehin alle vergessen. Wir lassen sie ja ohnehin an nichts teilnehmen. Wahlrecht? Nein! Steile Thesen, viele Vorwürfe, ohne Gegenrede! Aber auch hier: Man kann und sollte darüber nachdenken! Kennen wir die Einstellungen und Gefühlslage unserer türkischen Mitbürger wirklich? Kennen wir sie? Wollen wir sie kennen?
Fragwürdig zum Dritten: Die Familie kommt (1992) wegen der Beerdigung des Vaters und wegen der Testamentseröffnung in Deutschland zusammen. Die Familie ist steinreich – der gerade verstorbene Vater führte ein milliardenschweres Unternehmen, die private Villa ist 20 Millionen € wert -. In sehr ausladenden Filmsequenzen werden immer wieder auf großer Leinwand hochelegante und schicke Porträtaufnahmen der Familienmitglieder gezeigt. Porträtaufnahmen vor moderner Kunst. Soll das das Bild einer doch so gelungenen Karriere in Deutschland zeigen? Schick, elegant, reich? Soll das die doch so „gelungene Integration“ der türkischen Familie zeigen? Auch das Bühnengeschehen ist sehr ästhetisch gehalten. Hier etwa:

Fragwürdig zum Vierten: Es geht im Stück nicht nur um Erinnerung an die Opfer rassistische Gewalt in Deutschland. Es geht plötzlich in dieser relativ kurzen Inszenierung (1 Stunde 40 min) um viel mehr Themen – die offenbar das Thema der Erinnerungskultur als „Plot“ einrahmen sollten: Ein Familienstreit, die Rolle des erfolglosen Sohnes, eine lesbische Tochter, eine sterbenskranke Mutter, eben der gestorbene erfolgreiche Vater, ein DDR Flüchtling, Migration, Verantwortung gegenüber der Familie und und und. Viele Themen, die allesamt im Grunde viel zu kurz behandelt werden. Klingt nach Familienepos, konnte aber in dieser kurzen Zeit nicht gelingen!
Es war also ein fraglicher Abend, ein Abend zum totalen Scheitern von Integration, der im guten Ansatz stecken bleibt. Vielleicht eine viel zu kurz geratene Kurzfassung eines Familienepos. aber eben auch ein Grund, es sich anzusehen. Es gibt im Dezember verschiedene Aufführungstermine.
Copyright der Bilder: Krafft Angerer
Das Erbe von Nuran David Calis Uraufführung Regie & Choreographie: Pınar Karabulut Bühne: Aleksandra Pavlović Kostüme: Sara Giancane Musik: Daniel Murena Licht: Stephan Mariani Video: Su Steinmassl Dramaturgie: Mehdi Moradpou Mit: Elmira Bahrami, Zeynep Bozbay, Sema Poyraz, Edith Saldanha, Mehmet Sözer
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