Thomas Bernhard würde schreiben:
„Kaum waren die Weihnachtsfeiertage überstanden, ging ich ins Schauspielhaus, obwohl mir doch diese allesamt so verlogenen Schauspielhäuser verhasst sind. Auf diese Weise könne mir aber schnell das normale Leben zurückgegeben werden, das ich (wie immer) über die Weihnachtsfeiertage geradezu verloren hatte. Die Weihnachtstage, dachte ich mir, hatten auch dieses Jahr das normale Leben verdrängt, völlig in die dunkle Vergessenheit gedrängt, in das absolute Nichts hinein.
An den Weihnachtsfeiertagen schwebe ich im Nichts, sage ich mir immer, nur in den anderen Tagen habe ich einen Boden unter den Füßen, weiß ich seit Jahren. Die Weihnachtstage, die wieder so entsetzlich lang waren und die im Grunde, dachte ich mir, nur wieder eine zügellose, geradezu ekelhafte Aneinanderreihung von einer Speise an die nächste waren. Karpfen, Plätzchen, Raclette, Lachs, Wild, Gänsebraten, Blaukraut, Maronen, Mousse au Chocolat, Kartoffelsuppe, Stollen und immer so weiter! Es ging wieder, sagte ich mir, drei ganze Tage lang, ausschließlich um Essen, nicht im geringsten ging es um eine christliche Feier! Was heißt Tage? Es ging im Grunde auch nachts so weiter! Jeder Gang zur Toilette war verbunden mit einem Gang in die Küche! So viel ging es um Essen, dass ich mir auf dem Weg zum Theater noch dachte, Weihnachten war ja dieses Jahr seltsamerweise zwei Wochen lang gewesen! Obwohl es doch nur ein einziges Wochenende war! Das fürchterlichste Wochenende des Jahres! Ich war schon nicht mehr zum Pinkeln, sondern zum hemmungslosen Kotzen auf die Toilette gegangen. Immer wieder und ausgiebig musste ich diese ungesunde aber permanente Nahrungsaufnahme durch Kotzen unterbrechen.
Es sollten also jetzt, drei Tage nach diesen vollkommen sinnenstellten, zu nichts nützlichen und geradezu krankhaften Weihnachtstagen, wieder die Münchner Kammerspiele sein, dieses widerwärtige Theater, dachte ich noch, das mich seit Jahren trotzdem anzieht, obwohl es keinen Grund dazu gibt, mich anzuziehen. Ich lasse mich von nichts anziehen, wusste ich schon längst, schon als Kind hatte ich mich von nichts anziehen lassen! Dieses Theater, das sich noch dazu seit vielen Jahren oder seit Generationen, im Grunde sogar immer schon, naturgemäß ohne jegliche Begründung, zu einem der besten deutschen Theater zählt! Wahrscheinlich hält es sich für das beste Theater Deutschlands, natürlich jedenfalls für ein Theater geradezu von Weltformat, weil es einfach ein deutsches Theater ist! Ein widerwärtiges Welttheater!
Thomas Bernhard, „Heldenplatz“, wird zwischen den Jahren in diesem Welttheater gezeigt, dachte ich mir immer wieder während dieser entsetzlich langen Weihnachtstage! Nach dem Lachs und vor dem Gänsebraten. Thomas Bernhard, „Heldenplatz“! Ein undeutscheres Stück gibt es doch gar nicht, dachte ich mir!
In diesem Stück geht es doch um Wien! Um den Heldenplatz in Wien, den ich seit Jahren meide, es geht doch nur um Österreich, dachte ich noch! Um diesen kleinen Nachbarstaat von Deutschland, in den man am besten zum Skifahren fährt. Vielleicht auch zum Wandern! Nicht um Deutschland selbst geht es, sagte ich mir. Und gleichzeitig sagte ich mir, natürlich wollen die Deutschen über Österreich schimpfen, nicht über sich selbst schimpfen, sie wollen wieder einmal Österreich als die Nazis zeigen, nicht sich selbst als die Nazis zeigen. Denn, wusste ich, im Stück „Heldenplatz“ geht es doch um diesen österreichischen Professor, der Selbstmord begeht, weil er, nachdem er einige Jahre in Oxford verbracht hatte, erinnerte ich mich, dann doch merkte, dass in Österreich immer noch alle Nazis waren, tief im Herzen waren sie alle immer noch Nazis, die Österreicher, sagte sich der Professor – bis zu seinem erbärmlichen Selbstmord. Und da beginnt das Stück!
Und dann saß ich da in Reihe 7 auf einem dieser fast menschenunwürdig schlecht gepolsterten Klappsessel, dieses Mal ohne diese desolaten und mich nur belästigenden Kopfhörer, bei 25 % Auslastung wegen Corona. Ich blickte mich in diesem unsäglich und geradezu abstoßend morbiden Theaterraum der Kammerspiele um! Noch dazu musste ich natürlich wegen Corona eine dieser absolut unwürdigen Gesichtsmasken tragen.
Dann ging es entsprechend los: Videos von österreichischen Naziaufmärschen zur Zeit des Zweiten Weltkrieges hämmerten sofort auf mich ein. Jawohl, diese elenden Österreicher, dachte ich mir. Aber ich wusste: Falk Richter war der Regisseur, er wird das Stück sicher so bringen, dass es sich um Nazis und Antisemiten in Deutschland handelt, nicht in Österreich! Und so war es dann auch! Abstoßende Videos von allen bekannten AfD-Politikern, fürchterliche aktuellere Videos von Naziaufmärschen in Deutschland, verwirrende Bilder vom lächelnden Maaßen, von Andi Scheuer, Texte und Bilder von Franz Josef Strauß, von Friedrich Merz, von allen. Plötzlich auch Bilder vom Sturm auf das Kapitol in Washington, wer weiß warum!
Dann, nach einer völlig stupiden Pause, wurde „Heldenplatz“ gewissermaßen unterbrochen. Es kam ein „Kapitel“ mit eigenen Texten von Falk Richter! Nichts von Thomas Bernhard! Im Grunde war es dann eine grauenhafte Philippika gegen alle Konservativen, die ja alle die Nazis unterstützen würden. Nichts hatte es noch mit Thomas Bernhard zu tun.
Immer wieder fragte ich mich auch, was diese widerliche Bühnengestaltung soll. Die Seitenwände und die Rückwand waren etwa 10 m hoch verhüllt mit einem langen, tiefroten Latexvorhang! Plastik! Es waren sogar zwei Vorhänge hintereinander! Mitten in dieser grauenhafte und so fragwürdigen Vorstellung wurde der vordere Vorhang ganz langsam nach oben gezogen, dahinter kam ein tief schwarzer weiterer Vorhang dieser Art zum Vorschein. Wieder Plastik! Ansonsten standen auf der Bühne wild durcheinander viele kleine Gegenstände, Requisitekisten, Lampen, und alles war ansonsten natürlich vollgestellt mit polierten Schuhen. Ständig wurden die polierten Schuhe geputzt und ständig wurden Hemden des verstorbenen Professors gebügelt! Das war „Heldenplatz“ pur!
Und diese Schauspieler! Es war kaum zu ertragen! Sie haben im Grunde diesen treffenden Text aus dem Stück „Heldenplatz“ zu schnell gesprochen! Es war typisch, Schauspieler haben naturgemäß kein Gespür für das, was sie spielen und wen sie gerade spielen und von wem sie etwas gerade spielen! Schauspieler spielen das Leben, sie sind aber im Grunde Lebensverweigerer! Sie sind geradezu Lebenszerstörer und Lebensvernichter! Sie spielen etwas, aber sie sind es nicht!“
Und so weiter. Das hätte Thomas Bernhard geschrieben! Nun gut, so schlimm war es nicht. Ein paar Eindrücke blieben allerdings:
- Typisch für Falk Richter ist, dass er in gewisser Weise den Zuschauer überdeutlich auf ein riesiges Problem hinweisen will! Mir persönlich geht es dabei schnell zu sehr um eine Art Belehrung, nicht um eine feinsinnige Auseinandersetzung mit einem Thema. Auch geht manche Verallgemeinerung unter und wird vom Zuschauer schnell unvorsichtig hingenommen.
- Und in der Tat habe ich mich gefragt, wie der Verlag (oder die Erben) von Thomas Bernhard eine derartige Aufführung, die doch (vor allem durch den Texteinschub von Falk Richter) weit über den Fokus von „Heldenplatz“ hinausreicht, zulassen konnten!
- Das in gewisser Weise Einzigartige an den Texten von Thomas Bernhard ging so verloren. Natürlich wäre es auch kaum zu vertreten gewesen, das Thema der Nazis etwa auf Österreich zu beschränken! Allein das macht die Herangehensweise von Falk Richter verständlich. Der Herangehensweise von Thomas Bernhard in seinem letzten Werk „Heldenplatz“ entspricht es nicht!
Hier noch Eindrücke:


Copyright der Bilder im Text: Denis Kuhnert
Copyright des Beitragsbildes: Judith Buss
Leave A Reply