Auch das Münchner Residenztheater bietet verschiedene Streamings von Inszenierungen an. Für ein geringes „Eintrittsgeld“, dessen Höhe man selber wählt. Die Tickets sind dann jeweils bis 24 Uhr am Sendetag verfügbar. Der Stream ist jeweils für 48h ab Sendebeginn, also ab 19 Uhr, online. Was wird also an welchem Sendetag gebracht und kann gestreamt werden? HIER ist der Link zum Onlinespielplan des Münchner Residenztheaters, dort findet es sich.
Gestern, am 18. Februar 2021, war die Onlinepremiere von „ES WAREN IHRER SECHS. Ein filmischer Inszenierungseinblick.“ Weitere Termine sind dem Onlinespielplan zu entnehmen. Die Onlineversion dieser „Inszenierung“ ist kein klassischer Inszenierungsmitschnitt, sondern arbeitet mit dem über den gesamten Probenzeitraum gedrehten Filmmaterial. Ein Konstrukt aus Theater und Film. Es ist online die Uraufführung dieser „Inszenierung“ gewesen. Die Bühnenpremiere war am Resi auch für Februar 2021 geplant gewesen.
Der polnische Regisseur Michal Borczuch (Dramaturg und Autor Tomasz Śpiewak) zeigt hier seine erste Arbeit in München. Er hat „eine der markantesten Handschriften der gegenwärtigen polnischen Theaterszene“, heißt es. Er „spielt in seinen Arbeiten mit dem Grenzbereich zwischen Authentizität und Fiktion genauso wie mit den Interdependenzen von Leben und Theater.“
Zunächst: Filmisch großartig! Sie müssen genannt werden, das polnische Team um Michal Borczuch: Video und Schnitt Wojciech Sobolewski, Musik Bartosz Dziadosz, Licht Jacqueline Sobiszewski. Die düstere Atmosphäre auf der Bühne des Marstalltheaters wird immer wieder durch fantastische, zufällige oder gewollte, sehr eigenwillige, sehr besondere, nicht „gekünstelte“, nichts „verschönernde“ Kameraeinstellungen eingefangen und deutlich verstärkt. Filmaufnahmen, die für manche Filme einfach weggeschnitten werden würden! Auch die Musik trägt bei zur „schwierigen“ Situation derjenigen Personen, die damals die Weiße Rose bildeten und letztlich ihr Leben ließen. Sie wurden fast genau vor 78 Jahren hingerichtet, am 22. Februar 1943.
Dann: Die Onlineversion dieser Inszenierung wird genauso getragen von den fast durchweg jungen SchauspielerInnen! Man erkennt manchmal nicht, ob man eine Szene außerhalb der Proben, während der Proben oder während des Stückes auf der Bühne verfolgt. Es vermischt sich – wie die Szenen, wie Film und Theater, wie Fiktion und Realität. Ich möchte – rein subjektiv – Lana Velis hervorheben, HIER ihre Seite auf der Website des Residenztheaters.
Das Stück: Es basiert auf dem 1945 erschienenen Roman „Es waren ihrer sechs“ von Alfred Neumann. Alfred Neumann hatte, nach Amerika emigriert, im TIME Magazine von der Ermordung der Geschwister Scholl und von der Weißen Rose gelesen. Er erzählte dann aber nicht linear deren Geschichte, sondern befasste sich mit der – wie er sagte – «ewigen Idee» vom jugendlichen Widerstand gegen totalitäre Herrschaftssysteme. Allerdings: Michal Borzuchs Inszenierung spürt größtenteils der Situation der Mitglieder der Weißen Rose nach – in fiktiven Szenen – und nur in kurzen Sequenzen erfährt man den Eindruck, dass es hier auch um die „ewige Idee“ des Widerstands geht.
Ein – wie ich finde – sehr interessanter Text von Nikolai Berdjajew ist dazu dem Programmheft zu entnehmen. Der russische Religionsphilosoph Nikolai Berdjajew (1874-1948) war für die Mitglieder der Weißen Rose wichtiger Ideen- und Impulsgeber. Freiheit – Persönlichkeit- Widerstand. Eine kurze Sequenz dieses Textes wird vorgetragen. Dieser Text trifft in der Tat die ewige Idee des Widerstands!
Und vor diesem gesamten Hintergrund kann ich dieses irgendwie besondere Streaming, das Einblicke in die Proben der Inszenierung gibt, sehr empfehlen!
Hier der Text aus dem Programmheft.
„Das Dasein der Persönlichkeit setzt Freiheit voraus. Die Persönlichkeit existiert in der Welt nur dadurch, dass es nicht bloß ein Reich der Notwendigkeit, sondern auch ein Reich der Freiheit gibt. Ohne Freiheit kein Akt, keine Schöpfung, kein Widerstand. Das Individuum ist determiniert, es kann auch ohne Freiheit existieren.
Die Persönlichkeit aber ist eine Manifestation der Freiheit, sie bedeutet den Kampf der Freiheit gegen die Notwendigkeit. Ich habe hierbei nicht den Schulbegriff der Willensfreiheit als der Freiheit der Wahl im Auge, sondern den Begriff der Freiheit als schöpferischer Energie, als Bestimmung von innen her, als das geistige Prinzip im Menschen, das die menschliche Persönlichkeit erst eigentlich konstituiert. Freiheit ist Geist im Unterschied zur Natur als dem Prinzip der Notwendigkeit. Die Persönlichkeit im Menschen zeugt nicht allein von der Freiheit, sondern auch vom Geiste. Persönlichkeit heißt Widerstand gegen die unpersönliche äußere Umwelt, Nichtaufgehenwollen in ihr, Kampf gegen die Vergewaltigung durch Natur und Gesellschaft. Persönlichkeit heißt Wahl und Entscheidung. Man kann eine starke Individualität und doch nur eine schwach ausgeprägte Persönlichkeit sein; dann wird man es an Widerstandskraft gegenüber den Einwirkungen der Außenwelt fehlen lassen, wird nicht ankämpfen gegen die Notwendigkeit, die den Menschen von außen her bestimmt.
Der Begriff der Persönlichkeit steht in Beziehung zu einer Berufung und zu schöpferischem Wirken. Hier stoßen wir auf das Grundparadoxon ihres Wesens. Niemand kann von sich selbst sagen, er sei eine Persönlichkeit im vollen Sinne des Wortes, er habe sich völlig zur Vollendung gebracht. Persönlichkeit ist eine unendliche Aufgabe; sie ist nicht etwas Fertiges und Stabiles. Aber damit sie wirklich werde, damit auch nur ein Kampf um sie möglich sei, damit den auf ihre Zerstörung gerichteten Kräften Widerstand geleistet werden könne, muss sie bereits da sein, muss jenes Subjekt schon vorhanden sein, das den Kampf um die Vollendung der Persönlichkeit aufnimmt. Man kann dies auch so ausdrücken: es ist die Persönlichkeit selbst, die die Persönlichkeit realisiert; nur der Mensch bringt seine Persönlichkeit zur Vollendung, der selbst eine starke Persönlichkeit sein eigen nennt. Dieses Paradoxon ist einem anderen, dem Paradoxon der Freiheit, analog. Nur der Freie vollzieht die Freiheit in seinem Leben, nur der Freie befreit sich; nur er setzt der Macht der Notwendigkeit, die über seinem Leben waltet, Widerstand entgegen. Man darf selbst nicht mehr Sklave sein, wenn man das Joch der Sklaverei von sich abschütteln will.“
© des Beitragsbildes: Wojciech Sobolewski
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