Ulrich Rasche! Er war schon 2017 mit Friedrich Schillers „Die Räuber“ auf dem Theatertreffen, war 2018 mit Georg Büchners „Woyzeck“ auf dem Theatertreffen und dieses Jahr, 2019, mit „Das große Heft“, einem Roman von Ágota Kristóf.
Ein grauenhaftes Buch und eine Inszenierung, die einen mitgenommen hat. Das Grauenhafte kam in der für Ulrich Rasche so typischen Art der Inszenierung diesmal sogar noch etwas stärker zum Vorschein.
Sie waren Zwillinge – es war Krieg – ihre Mutter brachte sie zur Großmutter in die ländliche Gegend, weg von der bedrohten Hauptstadt – die Zwillinge lernten fürchterliches Leid kennen, Dreck, Hunger, Vergewaltigung, Erniedrigung, Tod, Lust an Gewalt etc. – aber sie nahmen alles hin, lernten daran, stählten sich, fasteten, töteten Tiere, sehen Sodomie, stellten sich blind und taub, fügten sich selbst Schmerzen zu, beleidigten sich gegenseitig und und und – sie behielten trotz allem in kleinen Momenten ihre Menschlichkeit – dadurch, dass sie ihre Erlebnisse, Erfahrungen und Beobachtungen in einem „großen Heft“ festhalten, entsteht eine Aufsatzsammlung – was mit Mutter und Vater geschah, verrate ich hier nicht – es geht bis zum Ende, das noch einmal besonders grausam ist. Ergebnis: Brutalst gestählert für das Leben – es sind ja Kriegszeiten – und trotz aller Grausamkeit immer noch mit Herz? Geht das? Ist etwas unerschütterlich? Oder ist das Leid letztlich größer?
Es gibt eine (wahrscheinlich gelungene) Verfilmung des Romans, HIER der Trailer.
Warum sich Ulrich Rasche dieses grauenhafte Buch herausgesucht hat, verstehe ich nicht ganz. Nur um zu erschüttern und zu beeindrucken? Das wäre wahrlich gelungen! Ich habe lange überlegt: Langsam frage ich mich, was denkt sich Ulrich Rasche dabei? Wie schon mehrfach gesagt: Es ist ja keine Theateraufführung, es ist etwas Anderes. Ulrich Rasche bringt Literaturshows auf unglaublich eindringlicher Art und Weise auf die Bühnen. Kann man Literatur in dieser Art so vereinheitlichen? Zu was führt das? Gut, es macht einerseits den Text eindringlicher und bewusster. Der Text und der Inhalt – nur darauf kommt es Ulrich Rasche vielleicht an – werden dem Zuhörer geradezu eingehämmert. Das hat eine beeindruckende Wirkung und kommt den puren Texten der Werke meist zugute. „Achte nur auf das, was der Autor sagt“, scheint Ulrich Rasche sich und uns zu sagen.
Andererseits aber gehen Elemente verloren: Jede Nuance der Gefühlswelt. Jede Freude. Jede Gelassenheit. Jede Leichtigkeit. All das will Ulrich Rasche nie zeigen! Es geht unter im Gebrüll, im Stakkato des Textes, im Ambiente insgesamt. Alles wirkt schwer. Wird der Zuhörer durch diese Art der Darbietung übertölpelt? Soll er einen ganz bestimmten Eindruck bekommen? Man kommt ja kaum zum Atmen. Ich bin fast schon vorsichtig, lese die Texte dann lieber noch einmal!
Ágota Kristófs trauriger Roman „Das große Heft“ ist 1986 erschienen, wurde in 30 Sprachen übersetzt. Noch lauter, noch bedrohlicher und aggressiver als in seinem bisherigen Stücken wird der Text des Buches hier in großen Ausschnitten von den auf sich drehenden Scheiben ständig marschierenden Schauspielern einzeln oder im Chor rezitiert, gerufen, geschrien. Noch eindringlicher als sonst. Und wie immer begleitet von monotoner Livemusik, Schlagzeug, Violinen, Cello, E-Bass. Auch die Musik schien mir diesmal noch ein wenig lauter. Diesmal waren es im Übrigen nur männliche Mitwirkende, auch das prägte den Abend mit. Es war alles beeindruckend, aber grenzwertig.
In der nächsten Spielzeit übrigens wird Ulrich Rasche auch erstmals am Wiener Burgtheater inszenieren. „Die Bakchen“ von Euripides. Männlich kann es dann wohl kaum werden. HIER der Link zum neuen Spielzeitheft des Burgtheaters in Wien. Es wird ja dort die erste Spielzeit unter dem neuen Intendanten Martin Kušej sein.
Es gab ja kürzlich auch schwere Vorwürfe gegen Ulrich Rasche am Frankfurter Schauspielhaus. HIER ein Bericht der FAZ. Schade. Offenbar gab es Schwierigkeiten im Umgang Ulrich Rasches mit seinen Mitarbeitern. Vielleicht fehlen ihm im wahren Leben doch die Dinge, die auch in seinem Literaturtheater fehlen (siehe oben)? Die Leichtigkeit etc.
HIER ein kurzes Video des Staatsschauspiel Dresden zur Inszenierung.
©️ des Beitragsbildes: Sebastian Hoppe
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