Es gibt „Theateraufführungen“, bei denen man im Grunde vor der Frage steht: Was sieht man sich da an? „Theater“? Nun, Definitionen sind natürlich schnell künstliche Schranken, die versuchen, Phänomene zu erfassen und einzuordnen, die sich aber doch weiterentwickeln.
Definieren sollte man daher auch den Begriff „Theater“ nicht unbedingt, vieles entwickelt sich auch in der Theaterwelt weiter. Definitionen schaffen nur Schubladen. Eine dieser älteren Schubladen war natürlich das „Sprechtheater“. Aber dahingehend hat sich das Theater ja schon sehr weit geöffnet. Was auch schön ist! Aber trotzdem: Manchmal kann man sich fragen: Was ist das, was man sieht? Schauspiel? Performance? Wieder etwas anderes? Ich meine, man geht ja „ins Theater“.
Zwei derartige „Stücke“, die zu solchen Überlegungen Anlass gaben, konnte ich in den letzten Tagen sehen: „Oratorium“ von SheShePop in Augsburg und „Elektra“ von Hugo von Hofmannsthal in München. Über „Oratorium“ schreibe ich gesondert. Hier geht es um „Elektra“.
„Elektra“ läuft seit kurzem am Münchner Residenztheater. Eine Inszenierung von Ulrich Rasche. Wer „Ulrich Rasche“ hört, weiß zumindest seit seiner Inszenierung von „Die Räuber“ von Friedrich Schiller am Münchner Residenztheater Bescheid. Außerdem „Woyzeck“ von Georg Büchner. Beide Inszenierungen waren in den vergangenen Jahren zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Dieses Jahr ist von ihm „Das große Heft“ nach dem Roman von Agota Kristof eingeladen. HIER einen Trailer über „Das große Heft“.
Was Ulrich Rasche macht, sind gigantische Literaturshows! Es ist eben nicht „Theater“, sage ich mal. Es sind auch nicht „Performances“, das große Pendant heutzutage. Wobei das Wort „Literaturshow“ zu banal ist. „Literatur – Opus“ wäre der bessere Begriff für seine Art der Inszenierung. Oder besser: „Zelebrierung klassischer Literatur“.
Genau: Wahrhaft Zelebrierung klassischer Literatur. Auch „Elektra“ ist wieder eine solche Zelebrierung. Ein höchst aufwändiges Herauszerren eines klassischen Literaturtextes aus dem Schatten. Die klassischen Literaturvorlagen, denen sich Ulrich Rasche annimmt, werden auf gigantisch aufwendige („Das große Heft“ ist nicht so aufwendig – Dresden hat sicher nicht die Mittel, das Münchner Residenztheater ist da besonders -, aber nach demselben Modell gebaut), sehr beeindruckende, eindringliche und gleichzeitig geradezu bedrängende Art und Weise dargebracht. Immer begleitet von lauter und leiser Livemusik mit Pauken und Violinen. Wobei auch „Musik“ kann man es kaum nennen. Es ist eine akustische, immer wieder auch bis ins Bedrängende gehende Begleitung und Untermalung des Werkes. Sie führt das ganze noch einmal ins Extreme. Monotonie, Präzision, Perfektion, Lautstärke, Kraft, Akustik, Text, stundenlange Fußmärsche der Akteure. Nur das ist Ulrich Rasche.
Manche sagen zu seinen Inszenierungen „Mensch-Maschinen-Theater“. Den Grund dafür sieht man etwa im obigen Beitragsbild. Oder hier in diesen weiteren Bildern:


Ich finde aber nicht, dass der Begriff „Mensch-Maschinen-Theater“ passt. Es geht nicht um Schauspiel. Es wäre ja bei Ulrich Rasche seit Jahren dasselbe Schauspiel! Es geht um die Rezitation einer klassischen Vorlage. Mehr nicht. Fast wortgetreue bringt Rasche die Texte. Das Wort zählt, nur das Wort. Und nur das Wort muss man hier auch wirklich ernst nehmen! Entsprechend langsam und deutlich und laut sprechen auch die auf der Stahlkonstruktion gehenden „Akteure“. Die Nebeneffekte der gigantischen Textzelebrierung: Bei „Elektra“ gehen alle SchauspielerInnen auf einer sich drehenden Scheibe. Gegenläufig dreht sich ein dünnes Lichtband. Auch übrigens bei „Das große Heft“ geht man auf einer sich drehenden Scheibe , siehe im Trailer. Bei „Die Räuber“ waren es breite, riesige Laufbänder. Bei „Woyzeck“ wieder eine Scheibe.
Angegurtet, immer dunkel (schwarz – manche nur beige) gekleidet, immer die dunkle Bühne, manchmal hochästhetische Lichteffekte, immer die „Musik“. Ein bisschen Nebel. Die Scheibe, die Laufbänder bewegen sich. Drehen sich, kippen. Bei „Elektra“ auch: Die Scheibe (siehe oben) hebt, senkt und verschiebt sich. Hinzukommt diesmal: Der riesige Stahldeckel der Konstruktion, der sich auch bewegt und verschiebt. Ein riesiges Stahlkonstrukt.
Dieser Zelebrierung des Textes kann man meines Erachtens nur folgen – oder sich der Bedrängung durch die Eindrücke widersetzen, wenn man sich mit den Vorlagen, die gebracht werden, auseinandergesetzt hat. So auch bei „Elektra“. Ich hatte während der Vorstellung von Elektra dazu eine Herangehensweise, die ich gleich schildern werde, weiter unten.
Worum geht es nochmal in der klassischen Version von „Elektra“: Die Familientragödie. Der Vater Agamemnon opfert für guten Wind auf seiner Reise nach Troja die Tochter Iphigenie. Die Mutter Klytämnestra nimmt es ihm übel. Agamemnon kommt nach Jahren des Krieges nach Hause. Er wird von Klytämnestra und ihrem Freund Aigistos getötet. Dass Aigisthos dadurch König wird, ist natürlich auch ein schöner Effekt. Elektra wiederum, die Tochter von Agamemnon und Klytämnestra, möchte den Tod ihres Vaters rächen. Sie kann es nicht, versucht, ihre Schwester Chrysotemis zu überreden. Sie tut es auch nicht. Dann kommt ihr totgeglaubter Bruder Orest. Er tut es. Er tötet die Mutter. In der griechischen Urfassung von Elektra geht es Elektra dann gut. In der Fassung von Hugo von Hofmannsthal zerbricht Elektra daran.
Meine Sicht der Dinge an dem Abend war eine andere. Ich habe mir vorgestellt: „Es gab gar keinen Tod. Das mit den Toten war immer nur eine übertriebene Art der Darstellung einer ganz anderen Situation. Alles übertrieben.“
Es gab nur einen kleinen Familienstreit. Er dauerte vielleicht nur 10 Minuten. Und daraus hätten die Griechen – Euripides, Sophokles etc. – dann eben die Tragödie „Elektra“ gemacht. Ein durchaus heftiger Streit war es vielleicht, die Familie sollte eben, würde man heute sagen, einmal eine Therapie besuchen. Ich hatte diesen Gedanken, da Hugo von Hofmannsthal ohnehin eine psychologisierende Herangehensweise hatte.
Und so sah ich es im Einzelenen: Elektra, Orest und Chrysothemis sind nur Teile einer einzigen Person. Auch das war bei mir angeregt durch das wieder sehr interessante Programmheft des Abends. Die gigantische Stahlkonstruktion ist dann der Kopf von Elektra. Alles schmilzt zusammen. Es spielt sich nur kurz in Elektras Kopf ab: Eine Familiensituation war es: Elektra hatte sich – vielleicht schon vor längerer Zeit – mit ihrem Vater gestritten. Der Vater hatte sie irgendwie verletzt, weil er irgendetwas anderes für wichtiger hielt (also Iphigenie, einen Teil von Elektra, „opferte“). Das aber nur nebenbei.
Die Mutter Klytämnestra hat dann – einige Zeit später – einen Freund. Die Mutter wirft es dem Vater auch vor, dass er mit Elektra nicht gut umging, sie verletzte. Der Vater war wegen irgendetwas (der Wind) der Tochter gegenüber egoistisch. Die Ehe scheiterte eben. Wie so oft. Warum auch immer, es wäre die Aufgabe einer Therapie, bei der vielleicht herauskäme, warum sich die Mutter so über den Vater ärgerte. Weil sie sich über ihn ärgerte, hat sie einen Freund. Elektra möchte dann, war meine Vorstellung, der Mutter jedenfalls Vorwürfe machen. Da wurde früher eben geschrieben: Sie möchte die Mutter töten! Weil die Mutter diesen Freund hat (Aigistos). Und das sind die 10 Minuten, um die es nur geht. Elektra schafft es nicht, der Mutter einen schweren Vorwurf zu machen. Sie will mehr, als nur einen kleinen Streit anzetteln. Elektra ist belastet. Sie sagt ja auch: Warum liegt alles so schwer auf mir? Warum zerstört es mich? Psychologie pur.
Elektra redet in meinem ner Vorstellung mit sich selbst (mit Chrysothemis). Sie wartet auf die Kraft in sich (auf „den Bruder Orest“ als Teil von Elektra), ihrer Mutter diesen schweren Vorwurf machen zu können. Und etwa aus der gemeinsamen Wohnung auszuziehen, nach heutigem Muster. Sie bekommt dann die Kraft (Orest taucht ja auf), sie macht der Mutter den Vorwurf (Orest „tötet“ ja die Mutter) und im Anschluss daran geht es Elektra gut beziehungsweise schlecht. Im klassischen Text heiratet Elektra später den Pylades. Der ganz „normale“ Fall für eine Familientherapie eben.
Und so wurde der gigantischer Abend in meiner Vorstellung auf ein ganz normales Maß heruntergedampft. Das tat gut. Aber eins ist klar: Dieser Abend ist besonders, er ist absolut zu empfehlen, wenn man sich mit dem Text auseinandersetzt. Nicht einfach ein Schauspiel erwarten!
HIER geht’s zur Programmseite des Residenztheaters zu „Elektra“. HIER ein Filmchen über den Aufbau der Bühne bei „Elektra“.
©️ auch des Beitragsbildes: Thomas Aurin
Comment
Den besonderen Abend konnte ich nirgends entdecken-ganz im Gegenteil