Nils Kahnwald, Ensemblemitglied an den Münchner Kammerspielen, hat zu Beginn des Theatermarathons in einführenden Worten an das Publikum von einem Sonnenaufgang erzählt.
Es entsteht so etwas wie eine Klammer um den Tag, den Abend (von 13 Uhr bis 23 Uhr). Nils Kahnwald stellt sich vor, dass der Mensch in 3000 Jahren – nach der Zerstörung der Erde – wieder aus Höhlen kriecht, endlich ohne Eigenschaften wie Gewinnsucht, Gier etc., nur in Demut, und erstmals wieder einen Sonnenaufgang beobachtet. Nach 700 Jahren. Und ganz am Ende des langen Tages sitzt man in den Kammerspielen und ganz langsam geht eine große Sonne auf. Alle – die Schauspieler und die Zuschauer – schauen minutenlang gebannt bei lauter werdender Musik zu. Man ist richtig eingewickelt in den Anblick dieser riesigen, aufsteigenden Sonne und die dröhnende, irgendwie schöne Musik. Und vielleicht fühlt man da ja diese Demut. Nils Kahnwald sagte zu Beginn auch, es käme am Ende das Schönste, was er im Theater je gesehen habe. Ist subjektiv natürlich und hebt die Spannung natürlich!
Ich habe aber jetzt schon zweimal an den Münchner Kammerspielen „Dionysos Stadt“ von Christopher Rüping gesehen. Wie bei den Dionysien werden drei Tragödien und ein heiteres Nachspiel, das „Satyrnspiel“, das das aktuelle Leben aufgreift, gebracht, eine Tetralogie. Ein 10-Stunden-Theatermarathon, der zurzeit an jeweils einem Wochenende pro Monat läuft. HIER der Link zur Onlineseite zum Stück.
Es ist natürlich ein besonderer Tag. Warum besonders? Es gibt mehrere Gründe: Worum es geht – kleine Momente – nochmal kleine Momente – Lerninhalte und der Mensch – die Schauspieler und Schauspielerinnen – die Gesamtheit – das Gemeinschaftsgefühl – fehlende Bedrängnis – die Schlichtheit – kleine Fragen:
1. Die Antike: Es geht bei „Dionysos Stadt“ nicht nur um die Erzählung der antiken Stoffe, Rüping spannt – fast unmerklich – einen weiteren Bogen hin zu Fragen, die jedenfalls immer leicht mitschwingen. Das hat ja auch die Antike ausgemacht damals. Der Mensch! Der Mensch zwischen Schicksal und Selbstbestimmung, oftmals zerstörerischer Selbstbestimmung. Der Mensch sah sich ja lange in der Gewalt von Göttern, Zeus etc. Und gegen den Willen von Zeus hat dann Prometheus den Menschen davon befreit, so die Sage, er gab den Menschen das Feuer. Der Mensch geht seither seinen eigenen Weg, wurde fähig (oder verdammt dazu), Wissenschaft und Technik immer weiter zu entwickeln. „Und dann kam ich, Nils Kahnwald“, sagt Nils Kahnwald im Stück an entsprechender Stelle, als der Mensch von den Göttern befreit war.
2. Es gab dann einen kleinen Moment gegen Ende des Theatertages, der plötzlich alles enthielt. Trotz dieses langen Theatertages und -abendes hatte man offenbar die Kraft, solch kleine Momente zu erkennen! Im Satyrnspiel, dem vierten Teil: Einzelne SchauspielerInnen blieben plötzlich regungslos auf dem kleinen Fußballfeld stehen, das man sah, unterbrachen ihr Fußballspiel, standen nur im Weg und blickten stumm in den Himmel. Um sie herum wurde weitergekickt, vorne auf dem kleinen Kunstrasenfeld auf der Bühne. Nils Kahnwald wiederum, er erzählte dazu die Geschichte des Kopfstoßes von Zinédine Zidane beim Endspiel der Fußballweltmeisterschaft 2006. Das war ja auch ein kleiner Moment. Er rezitiert den Text von Jean-Philippe Toussaint (La Melancholie de Zidane) zu diesen berühmten Sekunden. Es habe etwas für Zinedine Zidane Unausweichliches gehabt, der Kopfstoß. Etwas, was sich schon während des Spiels angekündigt habe. Etwas, das mit Melancholie zu tun habe, weil er seine Karriere nie anders hätte beenden können. Schicksal und Selbstbestimmung!
3. Der Abend hatte mehrere solcher Momente. Momente, die im Grunde das Mitschwingende hervorbrachten: Etwa wenn Benjamin Radjaipour mittendrin – während der Orestie, dem dritten Teil – wieder als Prometheus erscheint und über die Bühne und durch die Zuschauerreihen geht. Mit seinen zu einer Pistole geformten Fingern simuliert er Kopfschüsse! Nach dem Motto: Ihr seid doch alle dem Untergang ausgeliefert! Und er selbst ist schuld (Teil 1, die Prometheussage). Erst sucht der Mensch Kriege (Teil 2 des Abends, Troja), dann sind es Familientragödien (Teil 3 des Abends, die Orestie) und immer so weiter, mittlerweile Kriege UND Familientragödien. Oder wenn Udo Jürgens mit „Griechischer Wein“ ertönt. Klingt banal, ist aber gut. Oder wenn Agamemnon aus Troja zurückkehrt, am Tisch sitzt, isst und mit Klytaimnestra redet. Mit Videokamera auf einer große Leinwand projeziert.
4. Es ist bei alledem ein positiver Theatermarathon und nebenbei auch ein lehrreiches Erlebnis! Es sind vier Erzählungen, die völlig unterschiedlich gebracht werden: Wie gesagt: Die Erzählung 1: Die Prometheus-Geschichte (das Menschwerden) – eine Sage des Ursprungs der Menschheit. Der Mensch am Beginn des Weges zu Wissenschaft und Technik – Pause – Erzählung 2: Die Geschichte des Trojakrieges (und der Troerinnen) – eine wortgewaltige und musikalisch/mediale „Trojashow“ – Große Pause – Erzählung 3: Die Orestie – eine wunderbar humorvolle Darstellung der Familientragödie um Klytamnestra, Orestes, Elektra, Helena, Agamemmnon, Aigisthos etc. in modernes Leben gepackt – Pause wieder – Und zum Abschluss Teil 4: Eine leise Darstellung aus dem modernen Leben. Und immer wieder aufflackernd geht es um das Thema Menschsein insgesamt!
5. Ich möchte alle mitwirkenden SchauspielerInnen nennen: Maja Beckmann, Peter Brombacher, Majd Feddah, Nils Kahnwald, Gro Swantje Kohlhof, Wiebke Mollenhauer, Benjamin Radjaipour und Livemusik von Matze Pröllochs. Es sind für diesen langen Theatertag erstaunlich und erfrischend wenige Schauspieler! Bemerkenswert ihre Leistungen! Jeder Schauspieler und jede Schauspielern ist bemerkenswert überzeugend. Jeder und jede hat große Auftritte, ich frage mich auch, wie Sie sich all diese Texte merken können!
6. Meines Erachtens sehr prägend für diesen Tag ist auch, dass alle SchauspielerInnen ohne die geringste Einschränkung gerade in der GESAMTHEIT komplett überzeugen! Oft sieht man ja Stücke, bei denen vielleicht ein oder zwei SchauspielerInnen unter den anderen besonders überzeugen! So soll es ja zum Beispiel derzeit am Burgtheater in Wien bei der Inszenierung von Horvaths Glaube, Liebe, Hoffnung sein. Man schwärmt dort derzeit besonders vom Auftritt von Andrea Wenzl. Das Besondere bei Dionysos Stadt ist, dass alle durchgehend gemeinsam und jeder/jede für sich wunderbar spielen! Es ist die Gesamtheit der SchauspielerInnen, die einen geradezu durch diesen Abend zieht! Man ist eigentlich ständig bei Ihnen und – so ging es wohl fast allen Zuschauern – spürt nicht den Wunsch, vorzeitig zu gehen – bei 10 Stunden! Man merkt bei jedem und jeder SchauspielerIn durchgehend, dass er/sie sich mit dem Theatermarathon und dem Thema offenbar unglaublich identifiziert, wirklich nichts wirkte aufgesetzt, es schien ihnen Spaß zu machen!
7. Eine Art Gemeinschaftsgefühl entsteht fast im Lauf der Stunden. Mehr als sonst jedenfalls. Zwischen den Zuschauern untereinander und auch zwischen den Zuschauern und den Schauspielern.
8. Dieser lange Theatertag hatte bei mir jedenfalls die Wirkung, dass ich mich nicht ein einziges Mal auch nur irgendwie bedrängt fühlte. Bedrängt etwa von einer Art Wunsch der SchauspielerInnen, dem Publikum etwas klarmachen zu wollen. Kommt ja auch vor!
9. Besondes die ersten beiden Teile der Tetralogie – nein, auch der vierte Teil – bestechen durch Klarheit und Einfachheit! Trojas Geschichte ist durchaus kompliziert, aber die Herangehensweise von Christopher Rüping ist schlicht. Ein Merkmal der Inszenierungen von Christopher Rüping. Auch „Der erste fiese Typ“ – seine vorherige Münchner Inszenierung – besticht dadurch! Nichts ist überladen! Nichts ist verwirrend oder kompliziert durch unnötiges Geschehen. Man ermüdet nicht durch Komplexität der bildlichen Darstellung oder überbordende Details! Man fliegt mit. Einfaches Bühnenbild, Prometheus im Gitterkäfig über der Bühne hängend, wenige Schauspieler, die Schauspieler selbst nicht theatralisch, sondern schlicht und gut! Sehr gut! Glasplatten werden zu Scherben geschlagen – das ist das zerstörte Troja. Nur der dritte Teil, die Orestie, fällt insoweit aus dem Rahmen. Es ist üppiger, aber das muss dort so sein, es wird schließlich eine Hochzeitsfeier gezeigt. Aber auch das ist sehr gut gelungen!
10. Danach kann man sich kleine Fragen stellen, wenn man das Theater verlässt. Nils Kahnwald raisonniert ja am Anfang auch, man denke vielleicht später irgendwann noch an den Abend (Er sagt: … an ihn!) Wo stehen wir Menschen? Zwischen Schicksalsvorgaben von außen einerseits und eigener Selbstbestimmung andererseits zum Beispiel. Aber können wir denn überhaupt irgendetwas selbst bestimmen? Oder ist alles letztlich vorgegeben? Machen wir alles kaputt? Früher, in der Antike, dachte man, die Götter bestimmen vieles. Davon befreite sich der Mensch also. Und? Führte die Selbsbestimmung des Menschen seither nicht immer wieder ins Desaster? Troja und die Orestie waren in der Antike jedenfalls die ersten Desaster. Erstaunlich modern.
Viele Dinge haben diesen Theatertag also zu einem absolut gelungenen Tag gemacht! Standing Ovations am Ende.
©️ des Beitragsbildes: Julian Baumann
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