Im schönen Metropoltheater in München-Freimann ist derzeit eine sehr gelungene Aufführung von „Vögel“ von Wajdi Mouawad zu sehen. Im November wird es noch zwölfmal gezeigt. Ob es weitere Termine zu Beginn des kommenden Jahres geben wird, ist mir noch nicht bekannt.
ACHTUNG: DAS STÜCK IST KÜRZLICH (20.11.2022) ABGESETZT WORDEN WEGEN ANGEBLICH ANTISEMITISCHER ÄUSSERUNGEN! Ich weiß nicht, welche Äußerungen insgesamt gemeint sind, mir war nichts aufgefallen, aber okay. Die jüdische Großmutter sagt einmal: “Scheiß KZ“. Das kann ja wohl nicht antisemitisch sein. Auch die Erzählung inhaltlich: Ein jüdischer Soldat rettet im Libanonkrieg ein palästinensisches Baby, das Palästinenserkind wächst bei den Juden auf, auch dessen Kind meint, jüdisch zu sein, bis alles auffliegt. Ich weiß nicht, was daran antisemitisch war. Eine weitere Stelle wird genannt: Die Aussage „Wenn Traumata Spuren in den Genen hinterließen, die wir unseren Kindern vererben, glaubst du, unser Volk ließe dann heute ein anderes die Unterdrückung erleiden, die es selbst erlitten hat?“ Ist das gleich antisemitisch? Doch nur dann, wenn die Antwort „Ja“ käme, oder? Verstehe ich nicht ganz.
Wajdi Mouawad, geboren 1968 ist ein sehr produktiver und sehr erfolgreicher libanesisch-kanadischer Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur. Er schreibt auf Französisch, lebte früher auch in Frankreich und in Québec und lebt mittlerweile wieder in Frankreich. „Vögel“, seine erfolgreiche aktuellste Arbeit, wurde 2017 im La Colline in Paris in seiner eigenen Inszenierung uraufgeführt, die deutsche Erstaufführung fand 2018 am Staatstheater Stuttgart statt (HIER eine Besprechung der Stuttgarter Uraufführung). Die Wurzeln seines Schreibens über politische und religiöse Identitätskonflikte sieht Mouawad in einem Erlebnis, zu dem er in seinen Arbeiten immer wieder zurückkehrt: Es war ein Attentat einer christlichen Miliz auf einen Bus mit wehrlosen palästinensischen Zivilisten, das er erlebte. „Bei allem, was ich schreibe, geht es nur darum.“
So auch letztlich wohl in “Vögel“. Es ist ein Stück zum Einen über die Sinnlosigkeit von Grenzen – Grenzen in Form von Identitätsabgrenzungen. Zum Anderen aber ist es auch ein Stück über die Kraft des Gewohnten, das uns ja ständig die gelebten Grenzen – falsche oder nicht falsche – bestätigt, auch wenn sie sinnlos sind. Kann man sich jemals von solchen Grenzen lösen? Zerreißen einen die Grenzen, obwohl man ihre „Falschheit“ erkennt? Wie geht man damit um? Gewinnt immer die Gewöhnung?
All das – vor allem der Aspekt der Sinnlosigkeit von Grenzen (nicht nur von „falschen“ Grenzen) einerseits und die Kraft der Gewöhnung an solche Grenzen andererseits – wird in „Vögel“ deutlich durch einer Liebesbeziehung zwischen dem angeblich jüdischen Eitan (er wuchs in einer jüdischen Familie auf) und der arabischstämmigen Amerikanerin Wahida. Sie lernen sich in New York in einer Bibliothek kennen. Wahida lebt in New York und schreibt dort ausgerechnet an einer Doktorarbeit über ein Thema, das auch von Identitätsgrenzen – in einer anderen Zeit und einer anderen Kultur – zeugt. Wir konfrontieren uns mit dem Fremden, haben aber oft Probleme damit. Wir definieren uns andererseits über das „Andere“. Wahida schreibt über einen vor mehr als 500 Jahren zum Christentum bekehrten Weisen, der Papst Leo X. als Geschenk überreicht worden war.
Die Eltern von Eitan (der Vater – überzeugend gespielt von Michele Cuciuffo – glaubt, jüdisch zu sein) lehnen jedenfalls die arabischstämmige Wahida ab. Eitan bekommt Zweifel an seiner Abstammung und möchte mehr erfahren. Er reist zusammen mit Wahida nach Israel zu seiner Großmutter. Die Geschichte entwickelt sich weiter, Eitan wird durch ein Attentat schwer verletzt, ich möchte nicht zu viel verraten. Alle Mitglieder von Eitans Familie kommen schließlich zusammen, eine verborgene Wahrheit kommt ans Tageslicht.
In der Regie von Jochen Schölch erlebt man eine schlicht gehaltene Aufführung, die sich angenehm und sehr fokussiert auf das gesprochene Wort und das Spiel der SchauspielerInnen konzentriert. Ein langer Tisch, Stühle, mehr bietet die Bühne nicht. Das wiederum ist passend, die schlichte und für alle Beteiligten bedeutende Entwicklung der Geschichte, die Macht der lange verborgenen Wahrheit einerseits und der gelebten und gewohnten „Wirklichkeit“ andererseits ist das Entscheidende.
Die Inszenierung von Jochen Schölch bleibt übrigens im Deutschen einsprachig, wohingegen das Stück schon an mehreren deutschen Bühnen mehrsprachig aufgeführt wurde. Die Mehrsprachigkeit könnte natürlich nochmals Grenzen zwischen den beteiligten Kulturen verdeutlichen, es funktioniert aber auch so. Auch in der hier gewählten Einsprachigkeit ist der Abend beeindruckend, berührend, was an den schauspielerischen Leistungen liegt.
HIER eine Besprechung des Stückes von Deutschlandfunk Kultur, in der es ebenfalls um die Mehrsprachigkeit geht. Damals (2019) wurde das Stück an 14 Bühnen gleichzeitig gespielt. HIER noch eine Besprechung des Stückes in einer Inszenierung am Schauspiel Köln (2019).
Alle Schauspieler und Schauspielerinnen spielen von Beginn an überzeugend, ganz besonders möchte man neben Michele Cuciuffo (als Vater von Eitan) übrigens die beiden „Youngster“ Leonhard Dick und Magdalena Laubisch in den Hauptrollen Eitan und Wahida hervorheben.
HIER ein Gespräch mit Leonard Dick und Magdalena Laubisch über das Stück.
HIER noch der Link zur Stückeseite von „Vögel“ auf der Website des Metropoltheaters.
Ein bewegendes Stück, das viele Anregungen in sich trägt, um persönlich über das gezeigte konkrete Geschehen hinaus über die behandelten Themen – berührt vom Gesehenen – nachzudenken.
Eine Inszenierung von „Vögel“ ist übrigens derzeit auch am Berliner Ensemble zu sehen! Jetzt am Samstag, 05.11., beispielsweise! HIER der Link.
Copyright des Beitragsbildes: Jean-Marc Turmes
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