Pier Paolo Pasolini wurde im Alter von 53 Jahren nachts auf brutale Art und Weise angeblich von einem Stricherjungen ermordet. Angeblich vom Stricherjungen. Der Stricherjunge – Pino Pelosi – wurde verurteilt. Er widerrief dreißig Jahre später sein Geständnis. Es gibt bis heute Zweifel daran, ob Pasolini tatsächlich so gestorben ist, wie es im anfänglichen Geständnis von Pelosi geschildert wurde. Pelosi ist mittlerweile gestorben, der Mord wird nie richtig aufgeklärt werden.
Und daraus ein Theaterstück? Aus diesem brutalen Mord? Noch dazu in Verbindung mit Dante Alighieri’s „Die göttliche Komödie“?
Gut, die Verbindung mit Dantes „Die göttliche Komödie“ ist noch naheliegend: Dante Alighieri selbst lebte zwar um 1300, aber sein Werk der Weltliteratur „Die göttliche Komödie“ war – so das Programmheft – der „Fixpunkt“ des Werkes von Pasolini, der im Friaul geboren war. Und vielleicht seines Lebens. Sein Hang zum Subproletariat – in Rom dann hauptsächlich – war wie ein Hang zur Hölle. Das schon. Sein Kampf gegen den Neokapitalismus in Italien der damaligen Zeit, der Kampf für das Proletariat! Über 30 Prozesse wurden gegen Pasolini fast durchgehend von staatlicher Seite ausgehend angestrengt.
Ein Vergleich drängt sich erst einmal auf: Im Dezember 2018 war an den Münchner Kammerspielen eine Inszenierung von Milo Rau zu sehen, in der ein vor wenigen Jahren in Belgien verübter Mord an einem homosexuellen Jungen nachvollzogen und auf die Empfindungen nahestehender Personen eingegangen wurde. Es steht auch nur ein Auto auf der Bühne. Der Mord erregte damals viel Aufsehen in Belgien. „Die Wiederholung“ hieß die Inszenierung von Milo Rau. HIER der Link zu meinem damaligen Bericht. Milo Rau geht es ja sehr darum, im Theater die Realität zu zeigen. Pure Realität, auch wenn es dann auf der Bühne eine „Wiederholung“ ist. Es war damals auch wahrlich nicht angenehm, aber es hatte Wirkung. Man konnte überlegen: „Was bedeutet es eigentlich, ins Theater zu gehen?“
Anders war der Abend hier bei „Eine göttliche Komödie. Dante <> Pasolini“. Welche Wirkung hatte der Abend „Eine göttliche Komödie. Dante <> Pasolini“? Der Titel: „EINE göttliche Komödie …“ ist ja fast schon zynisch. Ermordung und Komödie!
Schauspielerisch ist der Abend vor allem für Tim Werths, der Pier Paolo Pasolini spielt, eine Herausforderung. Eine großartige Leistung und von ihm wird hier wirklich viel verlangt! Etwa am Ende bei seinem Schlussmonolog, einer Rede – ein Auszug aus der „Göttlichen Komödie“ – an seine Mutter, die er – längst nackt – in einer Wasserpfütze vor dem Publikum sitzend hält. Er wird auch einmal an seinem Penis von einem anderen Schauspieler über die Bühne gezogen. Auch die anderen Schauspieler – vor allem Franz Pätzold – überzeugen absolut. Die junge Truppe des Residenztheaters steigert sich! (Franz Pätzold verlässt das Residenztheater leider bald zusammen mit Martin Kušej in Richtung Burgtheater Wien.) Trotzdem: Es bleibt ein großes „Aber“!
Nach einer Viertelstunde setzten in der Premiere Buhrufe ein. Später verließen Zuschauer das Theater vorzeitig. Natürlich: So soll es sein! Theater soll kontrovers sein! Es ist ja fast ein gutes Zeichen für das Theater, wenn Zuschauer rufen und das Theater verlassen. Das macht Freude! Und gerade zu Pasolini passt ja das Kontroverse. Er, der – dann doch erfolgreiche – Schriftsteller und Intellektuelle und das von ihm immer wieder aufgesuchte (irgendwie vielleicht „ehrlichere“) Subproletariat. Pasolini war schwul und hatte sich in dieser seiner letzten Nacht wieder einmal einen Stricherjungen organisiert.
Und noch etwas, bevor ich zum „Aber“ komme: Der Abend war in sich durchaus stimmig: Gerade das in allem Extreme dieses Abends entspricht eben genau dem Leben von Pier Paolo Pasolini. Die Minuten seiner Ermordung werden auf der Bühne immer wieder wiederholt. Immer in leicht geänderter Version, verschiedenen Vermutungen zum Hergang folgend. Die einzelnen Abläufe werden dabei vorwärts und rückwärts „abgespult“. Die Schauspieler – alle männlich – agieren vorwärts und rückwärts. Eine komplett leere Bühne bis hinter zur Brandmauer – nur der graue Alfa Romeo von Pasolini steht auf der Bühne – sechs (fast immer identisch gekleidete) junge Personen – manchmal regnet es auf die Bühne herab. Mehr nicht. Später kommt eine Telefonzelle, ok. Es war jedenfalls fast therapeutisch. Als würde Italien immer noch darunter leiden, dass und wie Pasolini ermordet wurde. Und dass es nie richtig aufgeklärt werden wird.
Auch inhaltlich sehr stimmig: Pasolinis „Fixpunkt“ Dante Alighieri, der Übergang Pasolinis in Dante’s Höllenreich bis zum Paradies, aber auch das „Auftreten“ der Mutter, seine einzig „unverzichtbare Liebe“, Worte Pasolinis an seine Mutter. Die ungefragte Liebe der Mutter ist das Paradies. Alles eine Art letzter Einbildung von Pier Paolo Pasolini, am Boden liegend, vom eigenen Auto mehrfach überfahren. Trotzdem noch einmal: Es bleibt ein großes „Aber“.
Zum großen „Aber“: Meines Erachtens ist es ZU SEHR eine gelungene Inszenierung! Zu sehr! Die anfangs vielfach wiederholte Ermordung Pasolinis. Die identisch gekleideten Schauspieler. Die Nacktszenen. Die slow-motion-Sequenzen der Bewegungen der Schauspieler. Das ganze Geschehen auf der Bühne, das immer vor dem sich am Boden krümmenden Pasolini abläuft. Die Zitate aus Dante’s göttlicher Komödie. Das Erscheinen der Mutter von Pier Paolo Pasolini, die für ihn wohl die wichtigste „Figur“ in seinem Leben war. Alles eine Inszenierung.
Das ist genau der Unterschied zu Milo Rau, der bei der Realität bleibt. Bei Bellini wird die schreckliche Tat zu einer Theaterinszenierung. Wird sie damit nicht verherrlicht? Oder verhohnepipelt? Man hat eben „wieder eine schreckliche Ermordung gesehen“! Die Inszenierung ist sehr gelungen, sehr gelungen! Aber warum schaut man es sich an? Sollte man sich nicht fragen, warum man sich etwas ansieht? Bei Milo Rau ist es anders. Er lässt einen Zuschauer zurück, der sich viele Fragen stellt bei all dem grausamen Realismus. Bei Federico Bellini dagegen hatte ich am Ende keine Frage. Es blieb in einer bewegenden und eindringlichen, auch extremen Inszenierung ein fürchterliches Ereignis, das zu keinen weiteren Fragen anregte. Das ist jedenfalls das große „Aber“. So ging es mir jedenfalls. Aber sehen Sie es sich selber an!
Das Stück wird übrigens sehr kontrovers, hauptsächlich sehr kritisch gesehen. Viele negative, sehr negative Stimmen liest man auf http://www.nachtkritik.de. Am Ende des Beitrags auf http://www.nachtkritik.de (HIER) liest man Stimmen aus der Presse und von Zuschauern.
Hier noch ein Bild:

HIER der Link zur Programmseite des „Stückes“ auf der Website des Residenztheaters. HIER Aussagen des Regisseurs Antonio Latella zum Stück.
©️ des Beitragsbildes oben: Matthias Horn