Darf man alle Grenzen sprengen und alles infrage stellen? Diese Frage stellt sich, wenn man von Milo Rau „Die Wiederholung“ gesehen hat. Man kann das Theater – Kammer 3 der Münchner Kammerspiele – an diesem Abend ansich nur fassungslos, verunsichert und irritiert verlassen, weil alle Grenzen gesprengt worden sind.
Allein schon die tiefe Erschütterung über den grauenhaften Inhalt des Abends würde man ja gerne im Rahmen der bekannten Grenzen – ein Theaterabend eben! – halten. Das geht aber nicht. Schon dann, wenn man sich sagt, „so etwas möchte man nicht im Theater sehen“, hat man es eigentlich falsch verstanden. Dann klammert man sich ja doch wieder an die irgendwie existierenden Grenzen des Theaterschauens! Aber genau mit der Reaktion „Bitte nicht!“ soll man ja vorsichtig sein, sagt der Abend vielleicht. Natürlich kann man sich an die herkömmlichen Grenzen der „Gewohnheit“ festklammern, aber genau um diese Grenzen geht es an diesem Abend! Ich finde es ja immer wieder, wie gesagt, interessant, wenn uns unsere Grenzen bewusst gemacht werden.
Es wird ein vor einigen Jahren in Lüttich tatsächlich geschehener Mord an einem homosexuellen Jugendlichen aufgearbeitet und in vielen Aspekten – auch den Tathergang betreffend – nachempfunden. Schon mit diesem Mord wurden ja faktisch alle Grenzen gesprengt. Es wurde ein Mensch umgebracht. Sinnlos umgebracht von Jugendlichen, die damit ebenfalls völlig ihre Grenzen gesprengt haben. Warum auch immer. Vielleicht weil sie arbeitslos und frustriert waren.
Auch für die Hinterbliebenen des Getöteten wurden alle Grenzen gesprengt. „Warum?“ wird mehrfach von Ihnen und dem Freund des Getöteten gefragt. Sie können es nie verstehen! Es bleiben Ihnen nur völlig ungelöste Fragen.
Und weiter: Auch die Zuschauer werden im Grunde gezwungen, Grenzen zu sprengen. Gewohnte Grenzen des Zuschauens. Wann sieht man schon einmal in einer solchen Nähe und so detailiert nachgestellt einen grausamen Mord? Man ist einem schrecklichen Geschehen ausgesetzt! Noch dazu „untermalt“ von vielen vielen traurigen Emotionen. Gut, man sieht gewöhnlich mal etwa einen König sterben! Aber das ist Theater, reines Theater. Man zuckt mit der Schulter, wenn überhaupt.
Und noch weiter: Auch die Schauspieler sprengen für sich sicherlich Grenzen: Die beiden ältesten Schauspieler (eine Frau und ein Mann) sitzen längere Zeit nackt nebeneinander und küssen sich. Auch das ist ja ungewöhnlich.
Und noch etwas, was mit dem Sprengen von Grenzen zu tun hat: Eine der Mitwirkenden erzählt – in der Person des ehemaligen Freundes des Getöteten – er habe eine Wahrsagerin aufgesucht, um nach einem „Zeichen“ seines getöteten Freundes zu fragen. Wahrsagerei stößt ja herkömmlich auch schnell an die Grenze des Glaubhaften.
Und es ging immer weiter: Anhand der Konfrontation mit all diesen Grenzen werden dem Zuschauer auf einer völlig anderen Ebene weitere Grenzen aufgezeigt und auch diese Grenzen werden gesprengt. Es geht um die Grenzen des Schauspiels. Das eigentlich große Thema von Milo Rau, der zurzeit wahrscheinlich schillerndsten Figur der europäischen Theaterszene. Es geht ihm nur sekundär um den Mord. Es geht um Schauspiel und Realität. Sicher sind die Grenzen des Schauspiels der Anlass, warum er solche Abende gestaltet. Was ist Schauspiel, was ist Realität?
Ständig wird man an diesem Abend zwischen Schauspiel und Realität hin- und hergeworfen. Ein Beispiel: Der – ich nenne ihn einmal: – „Aufnahmeleiter“ sitzt neben der Frau, die die Mutter des Getöteten spielt, einem Kameramann mit portabler Kamera gegenüber und sagt: „Aufnahme!“. Beide werden gefilmt, schlüpfen sofort in die Rollen der Eltern des Getöteten und erzählen von den Momenten vor und nach dem Mord.
Die Frau wurde – wie andere Mitwirkende auch – zu Beginn des Stückes noch gefragt, warum sie Schauspielerin sei und was sie bisher gemacht habe etc. Also auch hier werden die Ebenen der Privatpersonen und der Schauspieler sowie der dargestellten Personen, den Eltern des Getöteten, vermischt, nebeneinander gezeigt.
Immer wieder diese Vermischung. So wird auch erzählt, wie man tatsächlich – in der Realität der Vorbereitung des Stückes – einen der Verurteilten in Gefängnis besucht hatte! Schauspiel? Realität? Für die Einen ist es Vorbereitung, für die Anderen Vergangenheit.
Auch der Aufnahmeleiter: Er ist der „Aufnahmeleiter“ (und auch den spielt er ja nur, er steht ja auf der Bühne) und er ist plötzlich der Vater des Getöteten. Und daneben ist er natürlich Privatperson. Viele Szenen sind übrigens auf einer Leinwand zu verfolgen, wobei sich auch hier wieder zeigt: Es stellt sich heraus, dass die Aufnahmen, auf die man blickt, gar nicht live vom Kameramann kommen, obwohl sie wörtlich und inhaltlich identisch mit dem sind, was der Kameramann gerade aufzunehmen vorgibt. Also noch eine Ebene. Oder man sieht auf der Leinwand eine Person in einem Bett sitzen, während das gleiche Bett auf der Bühne leer ist.
Und man überlegt wirklich immer mehr: Was ist überhaupt noch reell, was ist Schauspiel! Man hört ja anfangs auch die Aussage, dass Schauspieler, die sich auf ihre Rolle vor Beginn des Abends einstimmen, vorbereiten, im Grunde auf der Bühne gerade deswegen bloß „Schauspieler“ bleiben. Man wird an diesem Abend eigentlich weggeführt von der Schauspielerei. Hin zur Realität!
Milo Rau verfolgt zu dieser Frage ohnehin eine sehr besondere Ansicht: Er hat kürzlich das so genannte „Genter Manifest“ geschrieben. Es sind seine Grundsätze, nach denen er Theater macht. Milo Rau ist derzeit der Intendant des NT Gent. HIER das lesenswerte Genter Manifest (am Ende des verlinkten Beitrags).
Man hat also alle möglichen Grenzen gesehen und musste sie für sich aufheben. Alles wurde infrage gestellt. Eine Schlussfolgerung ist schwer! Ich würde sagen: Es wird einem bewusst gemacht, dass man beim Betrachten eines Theaterstückes im Grunde meistens feige an der Realität vorbeischaut. Auch wenn man meint, an der Realität „nah dran“ zu sein: Es ist nicht die Realität.
Gegen Ende erzählt eine der Mitwirkenden noch eine schöne Geschichte: Sie mag, sagt sie, besonders den 6. Akt von Tragödien: Den Akt, wenn sich alle SchauspielerInnen vor dem Publikum verneigen und wieder vereint sind. Auch wenn sie während des Stückes getötet wurden, verbannt, verletzt, beleidigt, oder was auch immer und wer auch immer. Sie wiederholen das Stück ja schließlich. Die Wiederholung.
Wer sich dem aussetzen will: Heute Abend noch einmal in den Münchner Kammerspielen, 20:00 Uhr.
©️ des Beitragsfotos: Hubert Amiel, Kammerspiele
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Okay, das klingt in der Tat echt spannend und inspirierend.
Liebe Grüße
Dorie von http://www.thedorie.com