Wir werden ja im Grunde permanent von irgendetwas „angegriffen“ oder besser: „herausgefordert“. Jeder von etwas anderem. Schule, Beruf, Familie, Beziehung, Kinder, Sport, alles. Auch wenn wir es nicht als Angriff erkennen, wir „verteidigen“ uns, wir wollen ja bestehen. Das ist unser Leben. Nur: Mit welcher Einstellung verteidigen wir uns? Wie gehen wir auf diese „Angriffe“ oder „Herausforderungen“ zu? Wehren wir sie ab? Verwirren sie uns? Lernen wir aus ihnen? Sind wir rechthaberisch? Wie sind die Ergebnisse?
Auch Dionysos und seine wilden Bakchen – von Dionysos verwirrte Frauen, die vor Theben wilde Feste feierten – waren in der griechischen Mythologie ein solcher „Angriff“. Ein Angriff auf den ordnungsliebenden Pentheus, den König von Theben. Eine „Herausforderung“. Pentheus ging auf den Angriff zu, dazu ließ er sich überreden. Er wollte die ausgelassenen Feiern der Dionysosanhängerinnen – der Bakchen – erleben und: Er scheiterte, wurde von der eigenen Mutter in ihrem Wahn getötet. Kein schönes, kein lehrreiches Ende, eher abschreckend, vor allem politisch gesehen. Es geht ja in „Die Bakchen“ auch um eine politische Herausforderung. Dahinter steckt jedenfalls viel altgriechische Mythologie. Hierzu gleich mehr (siehe unten)
Am Freitag, den 15. März, war Premiere und Uraufführung einer bemerkenswerten Inszenierung dieses „Konfliktes“ im Cuvilliés-Theater, dem kleineren „Ableger“ des Residenztheaters in München. Die Inszenierung war bemerkenswert wegen der Herangehensweise.
- Nicht nur, dass der Intendant/Choreograf Wim Vanderkeybus den Text der „Bakchen“ von Euripides vom flämischen Schriftsteller Peter Verhelst überschreiben ließ. (Der Text ist nicht besonders tragend. Schöne Worte, die alles ein wenig erklären.)
- Nicht nur, dass Wim Vanderkeybus wieder mit seiner „international contemporary dance company“ Ultima Vez arbeitet. Siehe rechts im Blog – im Sidebar – den Link zu bekannten Performancegruppen. Man findet dort auch den Link zu Ultima Vez und auf deren Website ihre Produktionen mt Videos. Der Tanz regiert also die Bühne.
- Nicht nur, dass Wim Vanderkeybus den Street-Art Künstler Vincent Glowinski während des Stückes auf der Bühne arbeiten lässt. Ein seltener Eindruck, der eine sich ständig weiterentwickelnde Umgebung schafft. Ich glaube, Vanderkeybus arbeitete erstmals auf der Bühne so mit dem Street-Art-Künstler Glowinski, einem Freund von ihm, zusammen. Malerei regiert die Bühne. Schon wie er sich zu Beginn kopfüber an den Füßen angebunden aus 10 Meter Höhe an der Leinwand herablässt. Und immer im Hintergrund malend über die Bühne und das Geschehen huscht.
- Nicht nur, dass die Inszenierung von Livemusik begleitet wird.
Nein, alles zusammen war es, was es ausmachte. Gerade die Kombination. Und sie bringt ein sehr eigenes Bild auf die Bühne. Man sieht nichts „Normales“. Aber genau das ist es ja, das Orgiastische der Bakchen, das Grenzenlose.
Der Abend wird außerdem insgesamt vor allem getragen von Gegensätzen: Von Gegensätzen und der Auflösung von Grenzen.
- Inhaltlich ohnehin. Der ordnungsliebende Thebaner Pentheus, der die Auflösung der Grenzen beobachtet, gegen die wilden Dionysosanhängerinnen – siehe mehr dazu weiter unten.
- Auch räumlich: Allein die Tatsache, dass dieses ungewohnte Stück in der barocken – ansich völlig unpassenden – Schmuckschatulle des Cuvilliés-Theaters gebracht wird, erzeugt einen riesigen Gegensatz zwischen „gediegenem Theater“ und „dem Wahn verfallen, orgiastisch“. Zwischen Cuvilliés-Theater und der Gruppe Ultima Vez.
- Auch die Bühne: Anfangs ist sie klar und sauber, nur ein paar schräg gestellte weiße Podeste zeigen nüchtern eine Hügellandschaft. Im Hintergrund eine 10 Meter hohe Leinwand. Am Ende ist die Bühne kaum wiederzuerkennen: Wild bemalt, zerrissene Tapeten überall – so, wie die Leinwand auf der Rückseite der Bühne, bemalte „SchauspielerInnen“.
- Auch die Schauspieler: Anfangs sind sie noch geordnet, am Ende wild und – wie gesagt – ebenfalls bemalt. Siehe das Beitragsbild.
- Auch ein Gegensatz: Alles auf der Bühne ist entweder weiß oder schwarz. Auch die SchauspielerInnen sind weiß oder schwarz gekleidet. Und Vincent Glowinski malt (hauptsächlich) mit schwarzer Farbe auf weißem Hintergrund.

Mythologisch geht es ja zumindest auch um Gegensätze: Das Gesamtgeschehen ist bei „Die Bakchen“ weitgehend verkürzt. Es gibt mehrere Mythen um Dionysos. In den „Bakchen“ von Euripides geht es nur darum, dass Dionysos nach Theben zurückkehrt und als Gott anerkannt werden will. Das ist der „Angriff“ gegen Pentheus, den König von Theben. Die „Herausforderung“. Die Zerstörung der Ordnung.
Insgesamt sieht es grob etwa so aus: Zeus hatte eine irdische Geliebte, Semele. Sie ist schwanger von ihm. Semele ist die Frau des Königs von Theben, Kadmos. Kadmos der Vater von Pentheus. Semele ist mit Dionysos schwanger. Hera, die Frau von Zeus, ist eifersüchtig. Sie sorgt dafür, dass Semele Zeus erblicken will. Wer Zeus erblickt, stirbt. So geschieht es auch mit Semele. Zeus holt aber seinen Sohn Dionysos noch aus dem Bauch von Semele und näht ihn sich in den Oberschenkel ein. Klar, in den Oberschenkel. Die „Schenkelgeburt“, die „zweite Geburt“ von Dionysos, ist dann zwei Monate später. Dionysos ist der einzige unsterbliche Gott mit einer sterblichen Mutter. Dionysos zieht also nach Theben, um als Gott anerkannt zu werden. Man verweigert ihm dort die Anerkennung als Gott. Er verwirrt die Frauen. So entsteht sein Kult. Alle Frauen von Theben folgen seinen orgiastischen Lustbarkeiten. Pentheus dagegen möchte in Theben Ordnung bewahren. Er ist ratlos angesichts des Wahnes der Frauen. Er schaut es sich an, wird von seiner Mutter im Wahn nicht erkannt … und so weiter.
Also: Was tun gegen den Wahn der Frauen, gegen Dionysos, das war Pentheus‘ Überlegung. Was tun gegen einen solchen Wahn überhaupt? Oder allgemein: Was tun gegen den Glauben vieler Menschen an bestimmte Kräfte, die die bestehende Ordnung zerstören, jedenfalls mißachten wollen. Ein irgendwie ja immer aktuelles Thema. Allerdings mit keinem guten Ausgang für denjenigen, der die Ordnung bewahren wollte, den ratlosen Pentheus, der zuerst noch herkömmlich zu den Waffen greifen wollte. Tja, sein Vorgehen hat ihn dann selbst zerstört. Aber auch kein guter Ausgang für die Mutter in der Gruppe der wahnsinnigen Frauen. Kein gutes Ende. Insoweit fällt es schwer, diesen durch alles zusammen in seiner Exzessivität schön besonderen Abend mit einer positiven Anregung zu verlassen.
Die Gesamtheit der Inszenierung ist jedenfalls auffallend ungewöhnlich, mit schönen Passagen. Man kann sich der Kombination von wildem Tanz, Musik, Malerei und Ekstase hingeben. … Allein wie sie sich tanzend immer wieder im Kreise drehen oder schwingen lassen … Hier noch zwei Aufnahmen:


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