Das Motto des Festivals lautet „Reich“. Das Gegenteil von reich ist arm.
Nun, auf den ersten Blick könnte man meinen, dass speziell die Produktion „Zvizdal“ von der Gruppe BERLIN „Armut pur“ zeigte. Die Journalistin und Dramaturgin Cathy Blisson und die belgischen Multimedia-Künstler Bart Baele und Yves Degryse haben sich zusammengetan als die Theatergruppe BERLIN. Man sah einen sehr berührenden Film, in dem es letztlich um viel mehr ging, als um Armut:
Ein altes Ehepaar (vielleicht auch nicht verheiratet), Petró und Nadja, beide um die 90 Jahre alt, lebt/lebte – wirklich! – seit 30 Jahren in völliger Einsamkeit im gesperrten Gebiet von Tschernobyl. Alle Menschen wurden nach der Katastrophe von Tschernobyl 1986 evakuiert, alle Gebäude und Wege des Ortes Zvizdal sind zugewuchert, eingefallen, sie haben kein Telefon, keinen Strom, kein fließend Wasser, keine Post, nur ein schlecht funktionierendes Radio. Sich und die Natur. Es gibt sonst nichts.
Das immer älter und zerbrechlicher werdende Paar lebte weiter in seinem Häuschen, vor allem Nadja wollte ihre Heimat nie verlassen. „Das Gras ist woanders auch nur grün!“ sagte sie. Doch: Sie haben/hatten etwas: Ein schon kaum mehr gehfähiges Pferd, eine Kuh, einen Hund und eine Katze. Pferd, Hund und Kuh starben dann. Petró auch.
Sie erinnerten mich fast an Adam und Eva im Greisenalter, im Grunde dahinlebend und auf den Tod wartend. Was sollten sie auch anderes machen? Abseits jeglicher Zivilisation. Sie wurden über drei Jahre hinweg mehrfach von den Mitwirkenden der Gruppe BERLIN besucht und gefilmt. Einmal pro Jahr – an einer Art Totensonntag – kamen von fern her ein paar Menschen, um Gräber von Personen zu besuchen, denen diese Menschen nahestanden. Und es gab eine Tochter, die alle paar Monate vorbeikam und dann vielleicht Schweineschmalz und Medikamente brachte.
Es waren verschiedenste Fragen und Beobachtungen, die sich auftaten, wenn man den unglaublich ruhigen Film ansah. Um „Armut“ ging es am wenigsten fast.
– Wie kann man eine solche Einsamkeit ertragen? (Gut, zu zweit war es immer noch etwas anderes!)
– Sie waren nicht „verfallen“, hatten sich nicht aufgegeben. Nein, sie wirkten irgendwie fast kultiviert. Sie haben jeden Tag das Gartentor zu ihrem Hof geschlossen, haben auf dem Feld mit letzten Kräften gearbeitet. Petró sollte das Laub zusammenkehren. Und bei allem haben sich beide irgendwie rücksichtsvoll dem anderen gegenüber verhalten. Sie liebten einander immer noch.
– Waren sie glücklich? Waren sie traurig?
– Wir in unseren Gefilden sind es ja gewohnt, uns selber ständig abzulenken und auch alt werdende Menschen möglichst bis zum Tod abzulenken. Aber was es heißt, nur zu leben, das haben die beiden erlebt!
– Vielleicht war es viel Demut und ihre Liebe zueinander und vielleicht auch zu ihrem Fleckchen Erde, was sie hielt! Sie sagten ja mehrfach im Film Dinge wie: „Es ist eben so, was soll’s. Mein Gott, so ist es eben“. Sie strebten offenbar nicht – im hohen Alter ohnehin nicht mehr – nach irgendetwas, sondern versuchten, das Leben zu leben. Winter und Sommer, Winter und Sommer…
– Können wir uns das überhaupt vorstellen, ein Leben ohne ein Streben nach irgendetwas?
– Im anschließenden Publikumsgespräch wurde erzählt, dass es zum Beispiel nicht möglich war, Ihnen allzu viel mitzubringen. Schnell wurde nämlich eine Grenze erreicht, wo sie nichts mehr annehmen wollten! Sie hatten sich abgegeben mit ihrem Leben! Das Leben pur, nicht Armut pur. Armut oder Reichtum spürten sie sicher garnicht mehr! Dazu passend gibt es ja noch eine Veranstaltung:
WAS MACHT DAS LEBEN REICH?
PHILOSOPHISCHES GESPRÄCH FÜR ALLE GENERATIONEN
11. NOVEMBER, 15 – 17 UHR,
MÜNCHNER KAMMERSPIELE, KAMMER 3
HIER die Festivalseite zur Produktion.
HIER die Website der Gruppe BERLIN, die das Projekt gemacht hat. Auch Videos kann man dort zur Produktion „Zvizdal“ sehen.
©️ Frederik Buyckx
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