Heute bringe ich allgemeiner gehaltene Betrachtungen zu einem der ganz großen Köpfe der deutschen Theaterszene der letzten 25 Jahre: Frank Castorf. Ich bringe keine reine „Theaterkritik“: Zum Einen: Ich schreibe den Blog ja nicht für wahre Theaterprofis. Zum Anderen geht es um eine Castorf – Stück und ich habe bisher erstaunlicherweise keinen Vergleich mit anderen Castorf – Aufführungen. Es war ein besonderer Castorf – Tag und es wäre in diesem Fall etwas anmaßend, zu „kritisieren“.
Frank Castorf! Viele Theaterfans haben natürlich schon längst eine oder mehrere der wahrlich berüchtigten Inszenierungen von Frank Castorf gesehen. Ich noch nicht. Obwohl er schon vor der Wende 1989 sogar einmal in München (im Residenztheater) eine Inszenierung bringen konnte. Aber das war noch nicht meine Theaterzeit. Jetzt gab es eine Inszenierung von Frank Castorf am Berliner Ensemble. Victor Hugos Roman Les Miserables. Ich bin nach Berlin gefahren.
Nach der Wende, von 1992 bis 2017, war Frank Castorf ja Intendant der Berliner “Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz“. Ich hatte im Blog (weiter unten) kürzlich darauf hingewiesen, dass es auf der Berlinale 2018 einen Film über „25 Jahre Frank Castorf“ gab. Ich hoffe, man kann den Film („Partisan„) noch öfter sehen. Frank Castorf arbeitet jetzt weiter als Regisseur am “Berliner Ensemble“, wo er pro Jahr eine Inszenierung bringt. Dieses Jahr ist es der große Roman von Victor Hugo, Les Miserables. Es gab am 3. März eine „Extended Version“ seiner Inszenierung mit Rahmenprogramm.
Das Rahmenprogramm dieser Extended Version bestand aus – erstens – einem selten gezeigten alten, jetzt restaurierten Film über die Anfänge der Revolution auf Kuba 1959 und – zweitens – einer Podiumsdiskussion des Dramaturgen Frank Raddatz mit dem Soziologen Wolfgang Engler (der Schriftsteller Ulrich Pelzer war leider krank). Titel der Podiumsdiskussion: „Die montierte Zeit“. Beide Veranstaltungen passten wunderbar zu der dann folgenden achtstündigen verlängerten Version der „Aufführung“ von Les Miserables von Victor Hugo. Irgendwelche Verbindungen?
Frank Raddatz etwa, Leiter der „Podiumsdiskussion“, hat das Buch „Republik Castorf“ herausgebracht, in dem Auszüge seiner Gespräche mit zahlreichen Personen aufgeführt sind, die mit Frank Castorf teils von Beginn an zusammengearbeitet hatten.
Matthias Lilienthal wurde auch von ihm interviewt. Lilienthal führt ja derzeit die Münchner Kammerspiele als Intendant und hat immer noch Schwierigkeiten mit dem sturen Geschmack des Münchner Publikums. Matthias Lilienthal arbeitete nach der Wende eng mit Frank Castorf zusammen am Aufbau der Volksbühne.
Weitere Verbindung: Frank Castorfs Inszenierung Trommeln in der Nacht von Bertolt Brecht wurde zu DDR-Zeiten nach zwei Aufführungen verboten (damals in Castorfs DDR-Zeit in Anklam). „Trommeln in der Nacht“ läuft derzeit an den Kammerspielen (siehe Blogbeitrag) und wurde zum Berliner Theatertreffen 2018 eingeladen.
Noch eine kleine Verbindung: Die berüchtigte vorletzte Inszenierung von Frank Castorf an der Berliner Volksbühne (Faust I und Faust II), eine siebenstündige Inszenierung, wurde zur Freude aller großen Theaterfans ebenfalls zum diesjährigen Berliner Theatertreffen eingeladen. Und siehe da, es wird von dieser Inszenierung im Mai sogar fünf Aufführungen mitgeben. Ich hoffe, ich bekomme eine Karte.
Zurück zu Frank Castorf: Seine Inszenierungen sind international bekannt, es gab viele Aufführungen außerhalb der “Volksbühne“. Seine Inszenierungen sind in der internationalen Theaterlandschaft eine Ausnahmeerscheinung. Wenn sich Frank Castorf eines Stückes oder eines Romans annimmt, geht es in jedem Fall nicht um eine lineare Erzählung. Ein Stück oder ein Roman sind Ansatz für Themen, die in einer Inszenierung angepackt werden. Unabhängig von Zeitebenen.
Der Zuschauer wird oft genug hingerissen zu verschiedensten Assoziationen, meist vor dem Hintergrund, dass irgendwie Alles in Allem oder jedenfalls Vieles in Vielem steckt. Insoweit wäre jede lineare Erzählung viel zu wenig.
Auch die Rolle der Schauspieler ist bei Frank Castorf sicher eine andere. Man kann sie kaum „Schauspieler“ nennen. Es ist – scheint mir – eine sehr besondere Mischung von Person, Rolle und Thema, von Spiel und Realität. Eher ein Kampf der „Schauspieler“ mit den Themen. (Eine Kleinigkeit etwa: Auf der Website des Berliner Ensembles wird im Gegensatz zu den anderen Inszenierungen bei Les Miserable nicht angegeben, Schauspieler … spielt „als ….“). Es muss herrlich und sicher hoch intensiv sein für Schauspieler.
Les Miserables von Victor Hugo. Ausgangspunkt der Inszenierung im Berliner Ensemble ist nicht nur der Roman „Les Miserables“ von Victor Hugo, sondern auch der Roman „Drei traurige Tiger“ von Guillermo Cabrera Infante, ein Buch über das Jahr 1958, das Jahr vor der Revolution in Kuba. In beiden Werken wird anhand einzelner Schicksale die Zeitströmung erfasst. Die Revolution steht 1958 in Kuba bevor, Revolution ist aber auch Thema im Roman „Les Miserables“ von Victor Hugo. Die französische Revolution. Beide Ebenen werden verbunden. Dementsprechend wurde im Rahmenprogramm des Tages der von Frank Castorf schon mehrfach verwendete Film „Soy Cuba“ gezeigt, in dem es um die Momente vor der kubanischen Revolution geht. Ausschnitte aus diesem Schwarzweißfilm werden auch dieses Mal in der Inszenierung von Frank Castorf auf Leinwand eingespielt.
Im Anschluss an die Filmvorführung von fand die Podiumsdiskussion statt. Auch diese traf „ins Schwarze“. Es wurde darüber geredet, dass Zeit nicht nur linear zu erfassen ist. Das große Thema bei Frank Castorf. Geredet wurde darüber, dass wir in der Gegenwart am liebsten nur noch linear und gegenwärtig denken und Geschichte und Zukunft ausblenden wollen. Das Ausblenden der Zukunft ist durchaus interessant. Zur Zeit der Revolutionen stand die Zukunft geradezu im Mittelpunkt des Denkens. Es sollte ja anders werden, es gab Zukunftsvisionen. Dann. Schon bei der deutschen Wiedervereinigung ist eigentlich die Frage, ob es überhaupt noch derartige Visionen gab. Es scheint heute geradezu eine Angst gegenüber der Zukunft zu herrschen. Wir beherrschen die Zukunftsthemen auch in Visionen nicht mehr! Daher blendet man die Zukunft lieber aus. Und die Vergangenheit auch. Aber wann lernt man schon aus der Vergangenheit? Schlimm, aber wohl wahr. Siehe Nationalismus, Syrien etc. Heute reden wir eben von „Postmoderne“ und könnten auch von „posthistorischen“ Zeiten reden. Eine wirklich lehrreiche Vergangenheit gab es ja auch kaum. Da ist die Gegenwart ziemlich resistent. Aber da kommt das Theater ins Spiel und die Literatur und und und.
Frank Raddatz schreibt dagegen im Programmheft zu Frank Castorfs Ansatz:
In den sich überlappenden Realitäten blitzen nahezu unkalkulierbare Zusammenhänge auf, verdichten sich unvermutet Verbindungen zu instabilen Assoziationsbrücken, die abenteuerliche Routen durch kaum kartographiertes Gelände bahnen.
(Seite 11)
Es geht um mehr als die linearen sichtbaren Realitäten. Es geht um die „Offenlegung des geheimen Bandes zwischen zwei (Anm: oder mehreren) scheinbar fremden Welten“ (Frank Raddatz), wenn das Thema Revolution in Kuba und „Die Elenden“ in Paris zusammentreffen.
Und Frank Castorf geht sogar weiter. Man findet als Zuschauer auch Assoziationen zur heutigen Zeit. Ein Beispiel: Andreas Döhler, der in Les Miserables die Hauptrolle innehat, erscheint während der Vorführung etwa plötzlich als “einfacher“ Zuschauer am Rande der Bühne und hockt sich am Bühnenrand in die Ecke. Die Inszenierung wird fast angehalten und Andreas Döhler spricht zu Valery Tscheplanova, die unterbricht und ihn verstört beobachtet: „Ich störe doch nicht, mach doch weiter! Du hast doch so viel Platz auf der Bühne“, sagt er zu ihr. Und schon ist man beim Flüchtlingsthema. Vielleicht war dieser Einschub Bestandteil der „Extension“. Mehr und mehr schlüpft Andreas Döhler dann wieder in seine Rolle.
Da wäre man allerdings bei einem meiner Eindrücke: Notwendig ist in heutiger Zeit vielleicht sogar ein noch gegenwärtigeres, noch politischeres Theater. Aber ich kenne ja nicht viele Castorf-Inszenierungen. Viele Jahre lang war ja die „Volksbühne“ sehr politisch und hat die Fahne des Ostens gegen die alles erdrückende Welle der westlichen Welt hochgehalten. Dafür stand ja auch der Schriftzug OST auf dem Dach der Volksbühne, der während der vorletzten Aufführung unter Frank Castorf – kurz vor dem Beginn der Intendanz von Chris Dercon – vom Dach abmontiert wurde.
Die volle Dröhnung habe ich mir jedenfalls gegeben. Es hat sich gelohnt.
Copyright des Beitragsfotos: Matthias Horn
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