Ein weiteres Stück der diesjährigen 10er – Auswahl des Theatertreffens. Five Easy Pieces des Schweizers Milo Rau (Konzept, Text und Regie). Milo Rau, der demnächst am international renommierten Theater in Gent arbeitet. In dem seit Mai 2016 in höchsten Tönen gefeierten Stück (es hat auch den 3Sat-Preis des Theatertreffens erhalten) geht es tatsächlich um den belgischen Kindermörder Marc Dutroux! Was für ein Unterschied zu den anderen Abenden! Was Theater alles versucht! Warum dieses Thema? Was ist der Kern des Stückes? Ich habe noch keine Kritik dazu gelesen, möchte erst meine eigenen Schlüsse ziehen. Meine Überlegungen sind:
- Theater ist hier der Versuch, etwas Grauenhaftes, das ganz Belgien – und Europa – erschüttert hatte, ein wenig aufzuarbeiten. Schon einmal gut! Es geht ja bei allem nicht immer nur um Nachrichten! Wobei: Es geht bei alledem hier auch um eine ganz andere Frage: Können sich gerade Kinder solch einem Thema – überhaupt dem Thema Leben und Tod – schauspielerich irgendwie in ihrer Art annähern? Es spielen ja Kinder!!
- Es ist ein zutiefst berührendes Stück, das mitunter zu Tränen rührt. Natürlich ist man auch wieder fassungslos über das Geschehene. Aber irgendwie ist man auch versöhnt, ein bisschen versöhnt. Es kann einem danach durchaus etwas besser gehen und das hilft! Es ist nicht eine Dokumentation, an deren Ende man nur sagen würde: „Was war das für ein grauenhafter Mensch!“ Das würde einen ja wieder einmal völlig hilflos und ratlos und beschwert zurücklassen. Das tut das Stück nicht! Nein, das Stück erleichtert ein wenig! Vielleicht weil man sieht, dass sich Kinder dem Thema genähert haben.
- Es wird nicht etwa dolumentarisch gearbeitet oder etwa nach Erklärungen für das Verhalten von Marc Dutroux gesucht. Darum geht es nicht. Kurz nur wird auf belgische Vergangenheit eingegangen. Dutroux’s Vater war in der Kolonialzeit im Kongo, Dutroux ist im Kongo geboren.
- Das Auffallende ist dann, dass das Stück so arbeitet, dass man (im Wesentlichen jedenfalls) in erträglicher Distanz zu Marc Dutroux und dem so unglaublich grauenhaften Schicksal einiger belgischer Kinder bleibt! Wie? Der Gesamtkomplex wird möglichst weit weggezogen. Es werden verschiedene Ebenen dazwischen gelegt: Ebenen, die es dem Zuschauer und hoffentlich den darstellenden Kindern erst ermöglichen, sich dem Thema anzunähern. Welche Ebenen? Eine Ebene ist das tatsächliche Geschehen. Eine zweite Ebene: Einzelne Szenen und Personen des Geschehens werden ausgewählt. Die dritte Ebene: Die ausgewählten Personen und Szenen werden auf einer Leinwand von Erwachsenen schauspielerisch nachgestellt (die Beerdigung eines der Kinder etwa – die Eltern eines verschwundenen Mädchens etwa – etc.). Eine vierte Ebene: Vor der Leinwand spielen die Kinder auf der kargen Bühne diese Rollen der Erwachsenen genau nach, übernehmen deren Rollen. In derselben Kleidung. Eine fünfte Ebene: Die Kinder spielen die Rollen ja, weil sie auf der Bühne schauspielende Kinder spielen! Schauspielernde Kinder, die – zum Teil jedenfalls – von einem Erwachsenen, ihrem Regisseur, mit einer Kamera aufgenommen werden. Das sieht der Zuschauer. Eine sechste Ebene sind dann erst die schauspielenden Kinder selbst, ganz real. Sie werden anfangs allesamt wie bei einem Casting mit ihren richtigen Namen vorgestellt. Fragen werden ihnen gestellt. Etwa, ob sie schon einmal getötet oder den Tod erlebt haben. Der das verarbeitende Zuschauer ist ansich eine letzte Ebene. Es sind somit oftmals sechs/sieben Ebenen, die zwischen dem Zuschauer bzw. den Kindern und Marc Dutroux liegen.
- Das Stück wird tatsächlich von Kindern gespielt! Von Kindern! Obwohl in den fünf Szenen des Stückes („Five Easy Pieces“ gibt es auch von Igor Strawinsky – HIER) grauenhafte Kernelemente des Geschehens erzählt werden: Der Bericht der exakten Tatschilderung durch Marc Dutroux nach der Festnahme. Er hatte die Kinder teils bewusstlos, aber lebend begraben. Ein unglaublich bewegender Brief eines der Mädchen aus ihrem Kerker an ihre Eltern. Das Mädchen sollte nie wieder das Tageslicht sehen und verhungerte. Eine Szene mit den Eltern eines der Mädchen. Eine Szene mit dem Vater von Marc Dutroux. Spielt das Stück mit den Emotionen der Zuschauer? Nein, diesen Charakter hat es nicht. Das Stück schafft dem Zuschauer und den Kindern vielmehr einen Ausweg: Denn thematisch baut sich für die Kinder in dem Stück neben dem Grauenhaften eben ein ganz anderes Feld auf! Es geht wie gesagt darum, was Kinder schauspielerisch überhaupt leisten können. Was spielen sie da? Können sie so etwas spielen? An dieser Stelle bin ich noch etwas ratlos. Was nimmt der Zuschauer mit? Jetzt lese ich mal ein paar Materialien zum Stück und ergänze den Bericht dann.
- Ergänzung: Milo Rau sagt zum Thema Kindertheater: „Kindertheater für Erwachsene ist – im ästhetischen Bereich und natürlich im metaphorischen Sinne – was Pädophilie beziehungstechnisch ist: Keine gegenseitig verantwortliche Liebes-, sondern eine einseitige Machtbeziehung, zu der sich der schwächere Teil, also die Kinder, verhalten müssen. Anders ausgedrückt: Beim Kindertheater für Erwachsene kommt die postmoderne Vorliebe für Medienkritik zu ihrem ursprünglichen Angriffspunkt: Sie wird wieder Wirklichkeitskritik. Theater mit Kindern zu machen, heißt Begriffe wie „Figur“, „Realismus“, „Illusion“ und eben „Macht“ existenziell in Frage zu stellen. Diesen Vorgang wollen wir auch bei „Five Easy Pieces“ zeigen, indem die „Stücke“ immer schwieriger werden: Was mit Rollenspielen beginnt – also mit der guten alten Cindy-Sherman-Frage: Wie können wir Patrice Lumumba oder den Vater Dutroux auf der Bühne nachmachen? – führt zu grundsätzlichen Fragen über inszenatorische Gewalt. Aus naturalistischer Mimikry, aus dem gruseligen Spaß am Nachäffen wird nach und nach eine Art Meta-Studie zur Performancekunst und ihren Verwandlungs-, Unterwerfungs- und Rebellions-Praktiken.Wir machen ja seit bald 15 Jahren Theater und Filme. Von der minimalistischen Performance über die politische Aktion bis zur iro-nischen Gesellschaftsrevue haben wir alles Mögliche gemacht – dazu Hörspiele, Videoclips, Filme, Bücher, Prozesse… In diesem Frühjahr bekommen wir den „Welttheaterpreis“ vom Internationalen Theaterinstitut, eine Art Lebenswerkpreis. Da fragt man sich schon: Ja, was kommt denn jetzt? Einfach nochmal fünfzig Stücke, Filme, Bücher? Kurzum, es ist der richtige Zeitpunkt, ein Projekt zu machen, in dem es um völlig grundsätzliche Dinge geht. Was heißt es, „jemand an-deres“ zu sein auf der Bühne? Was heißt „nachmachen“, „einfühlen“, „erzählen“? Wie geht man damit um, angeschaut zu werden? Wie erklärt und wie macht man das? Und diese grundsätzliche Befragung des Theaters ist ja keine intellektuelle Entscheidung: Dinge, die für erwachsene Performer völlig selbstverständlich sind, sind mit Kindern moralisch oder technisch unmöglich. Die ganzen kleinbürgerlichen Stanislawski-Tricks, den ganzen Intensitäts-Mythos der Performance-Tradition kann man wegschmeißen. Bevor wir das erste Mal zu den Proben nach Gent gefahren sind, sagte ich scherzhaft in einem Interview: Das macht mir mehr Angst als ein Trip nach Aleppo. Und es war tatsächlich so. Also Theater mit Kindern geht gar nicht, ist Pädophilie! Und dennoch versucht er, sich den Dingen wie „nachmachen“, „einfühlen“, „erzählen“ zu nähern. Gut gelöst! Ergreifend!
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