Die Frage ist: „Wie leben wir?“ Es läuft doch einiges schief. Wenn es so weitergeht, zerstören wir die Erde, keine Frage. Die Frage ist auch: “Wie gehen wir an die gewünschte Erreichung eines Endes der Zerstörung der Welt heran?“ Diese Fragen können/müssen natürlich auch philosophisch bearbeitet werden.
Die praktische Umsetzung ist dabei eine andere Frage, ob sich da jemals noch etwas ändert, ist fraglich. Ich habe jedenfalls den neuen philosophischen Essay des in Berlin lebenden deutsch-chinesischen Philosophen Byung-Chul Han “VITA CONTEMPLATIVA“ gelesen, der sich letztlich mit diesen Kernfragen auseinandersetzt.
Im Grunde ist es Philosophie mit starker Tendenz zu Gesellschaftskritik. Philosophie nur „der Philosophie wegen“ ist heutzutage auch kaum angebracht. So wurde Byung-Chul Han auch 2010 mit Die Müdigkeitsgesellschaft bekannt. Er diagnostizierte damals, dass in modernen Gesellschaften nur Effizienz und Vermarktungslogik eines Jeden zählen. Die Folgen seien Sinnlosigkeit, Depression, Müdigkeit. In der Beschleunigung, der Optimierung des Selbst, dem Keine-Zeit-Haben für sich und seine Mitmenschen sieht Han eine gefährliche Entwicklung.
Der Essay „VITA CONTEMPLATIVA (oder von der Untätigkeit)“ wird – ein kurzer Überblick – auf der Umschlaginnenseite beschrieben. Es geht diesmal nicht um Müdigkeit, sondern um den Verlust der Fähigkeit des Menschen zur Untätigkeit. Hier die kurze Zusammenfassung:

118 Seiten, kleines Format, sechs Kapitel – das lässt sich machen, um sich einmal mit diesen Fragen auseinander zu setzen. Die Kapitel lauten:
- Ansichten der Untätigkeit
- Eine Marginalie zu Zhuangzi
- Vom Handeln zum Sein
- Der absolute Seinsmangel
- Das Pathos des Handelns
- Die Kommende Gesellschaft
Natürlich handelt der Mensch, der Mensch ist handelndes Wesen. Das will auch Byun-Chul Han nicht bestreiten. Es geht um die Ergänzung des Handelns. Ergänzung durch ein kontemplatives Element, das wir aus dem Auge verlieren. Kontemplation, damit ist nicht etwa Freizeit gemeint! Kontemplation ist mehr! Das handelnde Element beschränkt den Menschen auf ein funktionierendes Subjekt. Auch Freizeit dient ja letztlich nur dem Funktionieren, dient dem handelnden Subjekt mit seinem ständigen Gedanken an ein “um zu …“. Erst wenn aber dieser Gedanke “um zu …“ fehlt, entfaltet sich wirklich Freiheit!
Byun-Chul Han entwickelt – muss man sagen – hierbei nicht etwa eine eigenständige Philosophie der Untätigkeit, sondern zeigt im Grunde eher auf, dass sich viele viele Philosophen, Künstler etc. bereits mit diesen Themen beschäftigt haben. Er hangelt sich von Philosoph zu Philosoph, von Kultur zu Kultur, und erklärt deren Sichtweisen zu diesen Fragen eher, als dass er eine eigenständige Philosophie entwickelt. Er verbindet letztlich die gefundenen Aussagen. Ein kleiner Schwerpunkt seiner Untersuchung ist dabei sogar die „Gegenposition“, die früher von Hannah Arendt in ihrem Buch „Vita activa“ vertreten wurde. Der Mensch werde erst durch Handeln im öffentlichen Raum („polis“) zum Individuum. Das mag richtig sein, schließt aber im Grunde daneben das Element der „vita contemplativa“ nicht aus. Individuum zu werden einerseits und das Sein überhaupt angemessen erkennen zu können andererseits, es sind zwei paar Stiefel!
Ansonsten: Adorno, Benjamin, Schiller, Plutarch, Anaxagoras, Homer, Klee, Rilke, Proust, von Aquin, Kleist, Nietzsche, Heidegger, Handke, Kierkegaard, Musil, Cezanne, Luhmann, sie und viele viele mehr werden herangezogen, weil sie alle wohl auch irgendwo das spürten, was Byun-Chul Han mit seinem Essay erklären möchte: Das so wesentliche Element der vita contemplativa, das seiner Ansicht nach übrigens durch die digitale Welt und durch Künstliche Intelligenz mehr und mehr verschwindet. KI kennt nichts „Kontemplatives“, KI kennt nur “an und aus“, sagt er.
Immer wieder schwingt dabei – kurz aber jeweils nur – auch der Hinweis darauf mit, dass wir uns vor allem der Rettung der Natur verschließen, wenn das kontemplative Element verschwunden ist. Hier kommt Gesellschaftskritik durch. Und vielleicht die Absicht von Byung-Chul Han, alles mit einem Weg zur Rettung der Natur zu verbinden. Die Welt und die Natur brauchen das kontemplative Element.
Auch hierzu ein Auszug, Seite 51:

Byung-Chul Han hatte über Heidegger promoviert. Die hier oben gebrachte kurze Darstellung über Heideggers Denken passt gut, ist aber nicht repräsentativ für dieses Buch. Es geht viel allgemeiner aus verschiedenen Blickwinkeln um das kontemplative Element, um das Erkennen des „Seins“. Durch Kontemplation gibt man sein egoistisches „Selbst“ auf, dann kommt das Sein der Welt zum Vorschein. Das Nichtvollziehen von Dingen wird wichtig, nicht das ständige Eingreifen! Heideggers Schrift “Ethik der Scheu“ wird erwähnt.
Insgesamt ein sehr wertvoller Gedanke, den Byun-Chul Han aufgreift, vertieft und erläutert. Der Ansatz ist elementar und deswegen lohnt es sich, den gerade erschienenen Essay zu lesen. ich empfehle dann allerdings, ihn zweimal zu lesen!
HIER der Link zum Wikipediaeintrag über Byung-Chul Han und HIER der Link zur persönlichen Website von Byun-Chul Han.
Und HIER der link zur Internetsite zum Buch VITA CONTEMPLATIVA auf der Website des Ullstein Verlages.
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