Die dritte „lange“ Inszenierung, die man derzeit in München sehen kann. „Die Träume der Abwesenden“ (5 Stunden) von Judith Herzberg am Residenztheater. Wieder ein „Tableau“. Gesehen hatte ich zuletzt „Effingers“ (4 Stunden) an den Münchner Kammerspielen und „Unsere Zeit“ (6 Stunden) ebenfalls am Residenztheater.
Vorab: Die Inszenierung ist schon wegen der vielschichtigen Texte von Judith Herzberg, an die sich Stefan Kimmich mit dieser Inszenierung genau hält, sehr gelungen! Man wohnt drei Familientreffen bei, verfolgt die vielen kurzen Gespräche der Beteiligten. Die Inszenierung selbst hält sich gestalterisch angenehm zurück. Es ist der Text! Ich selbst bin im Laufe der fünfstündigen Inszenierung immer mehr in den Sog all der Themen, die in verschiedensten Aspekten zur Sprache kamen, gefallen und habe das Theater schließlich mit vielen Gedanken und mit dem Gefühl verlassen, eine rundum gelungene Inszenierung gesehen zu haben. Ansehen! Die Inszenierung ist keineswegs belehrend, sondern anregend! Anregend wegen der Gedanken der Beteiligten. Anfangs war alles noch etwas verwirrend, fast ermüdend, man musste erst die Personen zuordnen. Ehepaare, Geschiedene, Neuverheiratete, Eltern, Stiefeltern, Freunde, Verwandte, Verstorbene … Man merkte aber mehr und mehr, je mehr man sah: Die Sache wurde rund, man verstand die Beteiligten immer besser. Gut, dass die Inszenierung 5 Stunden dauerte!
Ich habe also zuletzt drei „Tableaus“ gesehen: „Effingers“ war die sehr historische Darstellung einer großen Familie, die in der Zeit zwischen 1870 und den Beginn des Zweiten Weltkrieges lebte. Schwere Umbrüche rein historisch betrachtet. HIER mein Bericht dazu. Die Inszenierung „Unsere Zeit“ wiederum brachte ein modernes Gesellschaftstableau auf die Bühne. Ein Tableau von Personen, die sich – teils – über ihre zahlreichen Treffen an einer Tankstelle, aber auch über Verwandtschaft und Beziehungen kennen. Man merkte bei dieser Inszenierung (von Simon Stone): Hinter jeder Person steckt im Grunde ein schweres Einzelschicksal! HIER mein Bericht hierzu. Und nun „Die Träume der Abwesenden“. Diese Inszenierung bringt das zeitnahe Tableau einer jüdischen Großfamilie aus Amsterdam auf die Bühne, bei der seit Generationen (es spielt zwischen den 1970er-Jahren und der Jahrtausendwende) vor allem das Thema der Judenverfolgung und die Schicksale der früheren Generationen mitschwingen. Die Themen schwingen mit auf den drei Festivitäten, bei denen sich die Beteiligten immer wieder treffen.
„Die Träume der Abwesenden“, inszeniert von Stefan Kimmig, basiert auf einer Trilogie der (heute 97jährigen) jüdischen Autorin Judith Herzberg mit den Teilen „Leas Hochzeit“, „Heftgarn“ und „Simon“.
Ein Foto von Judith Herzberg:

Man sieht fünf Stunden lang, wie sich die einzelnen Personen in kurzen und nur manchmal etwas längeren Unterhaltungen miteinander auseinandersetzen. Es wird helfen, wenn man sich die Beziehungen der vielen Beteiligten vorab ansieht. Im Programmheft der Inszenierung findet sich ein Überblick über den Familienstammbaum! Hier ein Foto:

Was macht die Texte von Judith Herzberg und damit auch die Inszenierung aus?
Das Kunstvolle der Texte: Man könnte ja meinen, es ginge „schon wieder“ um die Vergangenheit der Judenverfolgung! In der Tat ist dies immer wieder ein Hauptthema und natürlich zieht sich dieser Aspekt durch die fünf Stunden hindurch! Aber – und gerade das macht meines Erachtens die Texte von Judith Herzberg aus – das allein ist nicht das einzige Thema! Es geht generell um das Leben, um das Vergessen, das sich Erinnern, das Mit-Sich-Tragen der Vergangenheit, um das Altern, den Tod, die Einstellung zum Tod. Um die verschiedenen Generationen, ihre Einstellungen und Sichtweisen, um den Kampf jedes/r Beteiligten mit sich und seiner/ihrer fernen und seiner/ihrer nahen Vergangenheit. Aber erst das Verweben all dieser Aspekte miteinander macht die Texte aus! Die Texte von Judith Herzberg sind dabei nicht historisierend verengt, sie weiten vielmehr den Blick! Schon der Gedanke „Die Träume der Abwesenden“. Es ist die schöne Überlegung: Wir leben die Träume der Verstorbenen. Sicher: Die Träume der Verstorbenen bestimmen nicht komplett unser Leben, sie spielen aber immer wieder herein, so der Gedanke, was natürlich vieles erschwert.
Was die Texte von Judith Herzberg aber noch so interessant macht (mein Eindruck): Zwischen allen Beteiligten werden im Grunde ständig Dinge gesagt, die sie sich eigentlich nicht sagen, die eher gedacht werden. Das Ungesagte kommt umso ehrlicher und direkter zwischen allen Beteiligten ständig zu Wort! In diesen vielen vielen kurzen, oft lauten Gesprächen. Selbst wenn anfangs der Inszenierung Einiges noch etwas gewollt erschien, löste sich dieser Eindruck im Laufe der Inszenierung vollständig auf. Die SchauspielerInnen spielen sich mehr und mehr in ihre Rollen hinein! Mehr und mehr lernt man damit die vielen Beteiligten – insgesamt 15 SchauspielerInnen aus dem Ensemble des Residenztheaters – kennen.
Die Inszenierung und das Bühnenbild wollen bei alledem nicht irgendwie die drei Texte interpretieren oder mit noch mehr Themen verweben. Entscheidend bleiben die Texte so, wie sie sind. Alle Schauspieler und Schauspielerinnen erhalten damit viel Spielraum und überzeugen allesamt zunehmend im Verlauf der 5 Stunden. Allein eine riesige runde Lichtapparatur, die – kann man sich denken – irgendwie zeigt, dass alles miteinander verwoben ist – gedanklich, menschlich, historisch, in der Erinnerung, im Verhalten, in der Kommnikation – bestimmt gegen Ende den Hintergrund der Bühne:

HIER der Link zur Stückeseite auf der Website des Münchner Residenztheaters. Und HIER ein Trailer.
Copyright der Bilder: Sandra Then
LASSE EINE ANTWORT