Wolfram Lotz mag einmal nachts im Bett gelegen haben und es mag sein, dass er nicht einschlafen konnte. Er hat vielleicht ständig über ein und dasselbe Thema nachgedacht, immer wieder, über „die Politiker“. Diese eine Nacht ist dann wahrscheinlich sein Text „Die Politiker“ geworden. Und dieser Text wurde dann – nicht zum ersten Mal auf deutscher Bühne – zur Inszenierung an den Münchner Kammerspielen, die kürzlich Premiere hatte. Die Inszenierung ist gegen Ende Juli und, denke ich, in der folgenden Spielzeit weiterhin zu sehen.
Vorab: Dieser Theaterbesuch war natürlich ein doppeltes Ereignis:
Es ging nicht nur um das Erleben einer Inszenierung, es war auch nach langer Zeit das Erlebnis eines Theaterbesuch an sich. Vor der Bühne zu sitzen – zu warten – Menschen zu beobachten – zu wissen, dass eine ganz bestimmte Anzahl von Menschen im Theater sitzt – die Inszenierung live zu erleben – „hautnah“ zu erleben, wie die SchauspielerInnen auf der Bühne agieren – eine ganz bestimmte Inszenierung zu verfolgen – am Ende zu applaudieren – zu merken, dass die SchauspielerInnen für diesen Abend genau mich (und die anderen ZuschauerInnen) „brauchen“ und andersherum ich (und die anderen ZuschauerInnen) die SchauspielerInnen „brauche“! All das wird irgendwie live viel deutlicher, als im Streaming, oder es wird live überhaupt erst möglich.
Gut, es gab in den vergangenen Monaten teilweise wunderbare Streamings von Theaterinszenierungen, keine Frage, auch Streaming – also Theater online – kann besondere Effekte hervorrufen. Manche Streamings „funktionierten“ sehr gut, haben Atmosphäre oder irgendetwas anderes transportiert, manche Streamings „ funktionierten“ aus meiner Sicht dagegen weit weniger. So ist das nun einmal. Theater hat meines Erachtens nichts mit „Erfolg“ oder mit ständigem „Gelingen“ zu tun. Es ist jedes Mal ein Versuch.
Und nun zur Inszenierung von „Die Politiker“:
Wie gesagt, jemand durchlebt eine einzige Nacht und kreist immer wieder um ein Thema: Die Politiker. Die beiden Wörter „die Politiker“ hört man an diesem Abend (ohne Übertreibung) zwischen 700 und vielleicht 1000 mal. Wenn nicht sogar viel öfter, weil sie teilweise auch parallel von den drei SchauspielerInnen gesprochen oder gemurmelt werden. Meine Rechnung: Die Inszenierung dauert 70 Minuten, allein pro Minute hört man durchschnittlich mindestens zehnmal die Worte „die Politiker“, macht schon 700 mal. In den englischsprachigen Surtitles heißt es nur manchmal „politica“ und manchmal „politicians“. Etwas viel – als wäre Wolfram Lotz in einer fürchterlichen Gedankenschleife gesteckt, die ihn nicht irgendwie voran gebracht hätte. Es ist ja nicht so, dass man der Bezeichnung „die Politiker“ durch den Text von Wolfram Lotz auch nur irgendwie näher kommen würde. Das ist auch gar nicht beabsichtigt. Es gibt nicht „die Politiker“.
Die recht junge Regisseurin Felicitas Brucker – eine von insgesamt 30 RegisseurInnen, die auf der Website der Kammerspiele genannt werden! – lässt für diesen Text drei Personen auf der Bühne erscheinen. Katharina Bach, Svetlana Belesova und Thomas Schmauser. Alle drei agieren weitestgehend in eigens für Sie bestehenden kleinen Kästen, „videoanimierten“ Zimmern, die klein und eng wirken. Vor allem Thomas Schmauser und ganz besonders Katharina Bach verausgaben sich – und überzeugen dadurch – geradezu. Alle drei reden und reden und reden. Sie reden meist parallel, über Licht und Ton wird jeweils der Fokus auf eines der Zimmer gelegt. Eine aufgeregte Aneinanderreihung von Gedanken, Elfriede Jelinek lässt grüßen! Katharina Bach spielt die „explosivste“ Person des Trios.
Die Inszenierung endet dann mit dem Satz: „Alle Dinge sind allein!“ Und genau das spiegelt die Stimmungslage des gesamten Textes von Wolfram Lotz und der Inszenierung (und schon des Bühnenbildes) wider: Wir reden von „die Politiker“, können sie aber gar nicht greifen. Wir stürzen immer wieder nur herab auf unser Alleinsein. Der völlig unbestimmte Begriff „Die Politiker“ ist Projektionsfläche für die recht hilflose Situation der SchauspielerInnen. Alle drei SchauspielerInnen suchen im Grunde Auswege aus ihrer Einsamkeit, ihrer Isolation. Suizid? Gewalt? Schreiben statt schreien? Oder wollen sie mehr Verantwortung der Politiker?
Getragen wird das Gedankenkonvolut des Textes meines Erachtens dann auch noch davon, dass es bei den undefinierten „Politikern“ um Personen irgendwo „oben“ geht, während alle anderen Menschen „unten“ sind. Das mag primär ein verständlicher Gedanke sein, Schlussfolgerungen aus dieser sehr unschönen Situation zeigen sich aber im wilden Gedankenkonvolut des Textes nur unscharf. Um Einiges zu unscharf, fand ich. Eine gewisse Schärfe der Gedanken vermag dem rasanten Tempo der Gedankenwechsel zum Opfer gefallen sein. Die Überlegung „weniger ist mehr“ gilt für den Text von Wolfram Lotz leider nicht unbedingt!

Copyright der Fotos: Judith Buss
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