Premiere von „Die Anderen“ war an der Berliner Schaubühne am 28. November 2019. Buch und Regie kommen von der Belgierin Anne-Cécile Vandalem. Es heißt über sie:
Geboren 1979 in Lüttich … Regisseurin, Autorin und Schauspielerin … Gründung von Das Fräulein (Kompanie) 2008 … im gleichen Jahr ihr Stück »(Self)Service« am Théâtre Vidy-Lausanne (2008) … erster Teil einer Trilogie … zweiter und dritter Teil »Habit(u)ation« (Théâtre de Namur, 2010) und »After the Walls (UTOPIA)« (Théâtre de Namur, 2013), welche zum Kunstenfestivaldesarts in Brüssel eingeladen wurden … jüngste Arbeiten »Tristesses« (Théâtre de Liège, 2016) und »ARCTIQUE« (Théâtre national de Belgique, 2018) … Einladung zum Festival d’Avignon und FIND an der Schaubühne — Soundinstallationen – u. a. »Michel Dupont, réinventer le contraire du monde« (Théâtre de la Manufacture Avignon, 2011) … multimediale Installationen – z. B. »Looking for Dystopia« (2014) … Videoinstallationen – u. a. »Still too sad to tell you« (Théâtre national de Belgique, 2015) … Performative Projekte im öffentlichen Raum – wie »Que puis-je faire pour vous?« (2014-15).
Sie ist also sehr vielseitig. HIER ein Interview mit ihr.
Zum Stück „Die Anderen“:
Vandalem entwirft – auch mit „Die Anderen“ – gerne fiktive Geschehen. Schön ist insoweit ihre Sichtweise im obigen Interview (am Ende):
„… die Realität, in der wir alle feststecken … Mithilfe der Fiktion können wir der Realität entfliehen und andere politische Möglichkeiten aufzeigen.“
Und es ist ein anderer Theaterabend (oder besser: Nachmittag), als man es meist erlebt. Es ist nicht freie Kunst, nicht Interpretation, es ist feine Dokumentation einer abstrusen Geschichte. Das Stück wird im März mehrfach an der Schaubühne am Lehniner Platz in Berlin im Rahmen des dortigen Festivals FIND gezeigt werden. HIER der link zur Website der Schaubühne und HIER der direkte link zur Stückeseite.
Alles wirkt sachlich, wie eine Dokumentation. Und gleichzeitig wie ein Krimi. Man verfolgt, wie gesagt, ein seltsames Geschehen – in einem Hotel in einem völlig verlassenen Dorf. Man blickt auf düstere Atmosphäre.
HIER ein Trailer zum Stück.
Irgendetwas steckt hinter dem eigenartigen Geschehen, den eigenartigen Andeutungen und Reaktionen der Personen. Im Dorf leben keine Kinder. Der Sohn des Hotelbetreiberpaares, Emil, wird mehrfach angesprochen, tritt aber nie in Erscheinung. Auch der Mann von Marge, ein Lehrer. Erst spät, kurz vor Ende des Stückes, erfährt man weitgehend alle Einzelheiten.
Es geht dabei um einen „Anderen“. Die Anderen. Kann man ihnen immer die Schuld geben? Es wird nicht ausgesprochen, aber es scheint ein Ausländer, ein Flüchtling, zu sein, der zu Beginn im Dorf landet, nachdem er angefahren wurde. Er wird dort festgehalten. Die Dorfbewohner haben ein schreckliches Ereignis hinter sich. Sie versuchen es zu verarbeiten, leben seit Jahren mit dem Ereignis. Haben ihre Schlüsse gezogen, machen anderen Menschen Vorwürfe, haben Schuldgefühle, irgendwie spielt auch Rache an Anderen eine Rolle, sie verarbeiten es auf ganz besondere Weise … auch der Flüchtling und später eine Sozialarbeiterin, die nach dem Flüchtling sucht, spielen dabei eine Rolle. Sie werden als „Blitzableiter“ gebraucht. Und in dem Ereignis, das Jahre zurückliegt, spielte auch ein „Anderer“ eine Rolle. Auch ihm gibt man die Schuld.
In diesem Fall ist der oben genannte Trailer eine aussagekräftige Hilfe. Er zeigt den düsteren, dokumentarischen Charakter des Stückes.
Es ist kein Stück, in dem man den Schauspielern näher kommt. Man betrachtet ein fremdes Geschehen. Schauspielerisch empfand ich es daher fast etwas zu kurz gekommen. Andererseits: Sie spielen allesamt schräge Gestalten in natürlicher Einfachheit. Dokumentarisch eben.
Die still und düster im Hintergrund mitschwingende Musik basiert auf Kompositionen von Pierre Kissling. Alle Titel sind HIER zu hören.
Das Stück ist eine Zuspitzung. Es geht um das Eindringen Anderer in das Leben in dem kleinen Dorf. Zwar hält man immer die Anderen für schuldig, so ist es aber (wohl) nicht. Man könnte also sagen: Es ist ein Stück für Fremdenfreundlichkeit und darüber, dass die Probleme nicht immer von den Fremden kommen! Man sieht ein Dorf, das die Schuld am Scheitern bzw. Zusammenbrechen seiner Existenz den „Anderen“ in die Schuhe schiebt, ohne die eigene Verwicklung zu erkennen oder zu berücksichtigen. Eine Aussage vor dem Hintergrund viel größerer Dimension? Gesellschaftskritik? Ja, Ansätze sind dabei.