Die Münchner Kammerspiele bringen ein Double Feature. Premiere war am Freitag, 07.10.. Beide Stücke werden in nächster Zeit auch einzeln geboten. Aber: Ich finde, dass sie in ihrer Unterschiedlichkeit einerseits und in ihrer bei der Vorstellung zeitlich gegebenen und thematischen engen Beziehung zueinander im Double Feature eine große Dynamik haben, die man miterleben muss. Gehen Sie in das Double Feature!
Beide Teile verbinden sich thematisch, in beiden Teilen spielen teils die gleichen SchauspielerInnen! Und sie spielen wunderbar: Katharina Bach (Bild oben, Copyright Armin Smailovic), Thomas Schmauser und Edmund Telgenkämper spielen in beiden Teilen. Besonders im zweiten Teil zeigt sich, dass gerade dieses Trio dieser so extrem unterschiedlichen Typen eine herrliche Auswahl für beide Teile des Double Features war!
Thema des Abends: Eine Frau sucht sich ihr Leben, sucht sich selbst. In beiden Stücken löst sich die Frau aus ihrer Umgebung. Einerseits löst sich die Ehefrau in Hendrik Ibsens Weltklassiker aus ihrem behüteten aber falschen Leben, aus ihrer „Einsperrung“ als „Lerche“ oder „Eichhörnchen“ (so nennt sie der Ehemann), andererseits löst sich bei Édouard Louis dessen Mutter aus ihrer sozial traurigen desaströsen Lage. Die „Einsperrung“ der Frau zu Zeiten von Hendrik Ibsen (Teil 1 des Abends, Ende des 19. Jahrhunderts; Ibsen hat „Nora …“ in München geschrieben!) sah dabei natürlich anders aus, als die „Loslösungsversuche“ von Édouard Louis’ Mutter zu unseren Zeiten (Teil 2 des Abends, heutiges Frankreich).
Der Ausbruch der Frau „Nora“ aus dem „goldenen Käfig“ war zu Ibsens Zeiten ein Skandal; der Versuch der Mutter von Édouard Louis dagegen, die sozial prekären Verhältnisse und die privat immer wieder üblen Zustände ihres Lebens zu verlassen, ist heute zunächst kein gesellschaftlicher „Skandal“ mehr, sondern eine „Beschreibung“. Eine berührende Beschreibung des Kampfes und der Versuche der Mutter, irgendwann in ihr eigenes Leben zu kommen. In Frankreich sind ja bekanntlich die sozialen Unterschiede noch deutlicher als in Deutschland. Auch dieses soziale Auseinanderdriften kann man allerdings durchaus als „Skandal“ bezeichnen.
Ich selber habe festgestellt, dass ich nach den Vorstellungen eigentlich ständig über mein (nicht prekäres) Leben, meine Familie, das damalige Leben meiner Eltern nachdachte. Beide Stücke zeigen etwas, was auch heute noch irgendwie in uns steckt, mehr oder weniger, so oder etwas anders.
Es geht also um diese beiden Stücke:
- Den Weltklassiker von Hendrik Ibsen: „Nora oder Ein Puppenheim.“
- Und den aktuellen Roman des französischen Schriftstellers Édouard Louis: „Die Freiheit einer Frau“.
Beides sind Inszenierungen von Felicitas Brucker.

Ein Großteil der bisherigen Arbeiten von Felicitas Brucker findet sich HIER.
Es ist aber nicht so, dass man an diesem vierstündigen Abend (mit einer 20-minütigen Pause) ein „altes Stück“ (Ibsen) und ein „modernes Stück“ (Louis) sehen würde. Der alte Weltklassiker “Nora“ wird in dieser Inszenierung aus der alten Zeit herausgehoben. Das gelingt Felicitas Brucker sehr gut. Es wird zeitlos, obwohl der Verlauf der bekannten Geschichte genau erzählt wird. Nichts aber von wegen: „Ein Zimmer, viele Türen … der Türschlag am Ende“ – so die klassische Inszenierung. Zuletzt wurde „Nora oder Ein Puppenheim“ in München am Münchner Residenztheater so klassisch gespielt.
Schon der Untertitel zu „Nora“ – nur so heißt es an den Münchner Kammerspielen – verbindet das Stück in gewisser Weise mit unserer heutigen Zeit: “Ein Thriller von …“ heißt es dort. Leise wummert auch immer wieder ein dumpfer Sound im Raum. Ein Thriller. Auch schon die Tatsache der Einbindung von “Nora“ in ein Double Feature mit “Die Freiheit einer Frau“ vom französischen Erfolgsautor Édouard Louis holt „Nora“ aus seiner alten Zeit heraus.
Fotos beider Inszenierungen. Zunächst “Nora“:

Und hier „Die Freiheit einer Frau“:

Zu “Nora“:
Das „Besondere“ an der Inszenierung „Nora“ von Felicitas Brucker ist, dass der Weltklassiker von drei jungen Frauen um drei Blickwinkel erweitert, fortgeschrieben, ergänzt wird. Von Sivan Ben Yashi, von Ivna Zinc und von Gerhild Steinbruch. Er verliert damit seine klassische Sprödigkeit, sein Alter. Andererseits wird der Verlauf der Geschichte von Noras Ausbruch aus dem “goldenen Käfig“ von Anfang bis zu Ende getreu dem Original durcherzählt. Der erste Teil ein Prolog (Text von Sivan Ben Yashi). Die SchauspielerInnen sitzen bei einer Textprobe am Tisch vor der Bühne. Es fällt ihnen gewissermaßen auf, dass das Stück zwar „Nora oder Ein Puppenheim“ heißt, dass es um Nora geht, es aber letztlich schon in der Besetzungsliste des Stückes immer wieder primär um Noras Mann geht, Helmer. Er ist es, der auf Platz 1 der Besetzungsliste steht, nicht Nora auf 1 und er dann etwa auf 2 etc. Spitzfindig und treffend!
Dann „öffnet“ sich die Bühne. Ein wenig nur, denn sie bleibt versperrt, ist dominiert von der schräg und falsch herum im Raum hängenden riesigen Fassade der Villa der Helmers. An dieser großen Fassade klettern die Schauspielerinnen in der Folgezeit immer wieder herum. Es kommt zu Begegnungen, man rutscht ab, liegt in einem umgedrehten Fenstergiebel, steht vor dem Gebäude, hat kleine Einblicke in das Haus, steigt durch eines der vielen Fenster auf die Fassade …
Erst gegen Ende, wenn es für Nora – die ja lange Zeit noch für den Erhalt ihres „schönen Lebens“ kämpfte – langsam in Richtung Freiheit geht, hebt sich die Fassade nach oben, das Haus verschwindet fast.
Der Rückblick der drei Kinder von Nora auf Noras Leben wird in das Stück eingebaut (Text von Ivna Zinc). Auch dort: Nora musste immer perfekt sein – auch ein durchaus heute aktuelles Thema.
In den Textbestandteilen von Gerhild Steinbruch wird zusätzlich besonders die Befindlichkeit von Nora und weiteren Beteiligten herausgearbeitet.
Es ist eine insgesamt meines Erachtens sehr gelungene Inszenierung. Auch Musik (Nora singt tragend und röhrend S.O.S. von ABBA) und Video kommen – nicht übertrieben – zum „Einsatz“.
Zu „Die Freiheit einer Frau“:
Auch dies ein Teil, der mich zum Nachdenken anregte. Auf dem Bild oben sieht man fast alles wesentliche: Die schlichte Bühne – eine weiße Holzwand – und die drei SchauspielerInnen, gleich (modern und simpel) gekleidet. Sie wechseln ständig ihre Rollen, sind alle drei mal Édouard, mal die Mutter, der Vater, die Geschwister. Berührt folgt man der Geschichte von Édouards Mutter, die sie erzählen. Die Mutter, die ihrer prekären, von betrunkenen Männer dominierten Lebenssituation irgendwie entkommen wollte. Sie schmeißt schließlich ihren zweiten Mann raus, schafft es nach Paris, ihr Leben wird besser, etwas weg von der Armut. Am Ende stellt sie allerdings fest, dass sie dort auch kaum „angekommen“ ist, akzeptiert ist. Thomas Schmauser sagt daher zu Recht am Ende: Es geht nicht (nur) um Veränderung, es geht um Glück!
Man hat etwas gesehen, was einfach immer relevant ist! Was prägt uns mehr als das Verhältnis Mann – Frau, Vater – Tochter, Mutter – Sohn, Freund – Freundin … oder all das auch gleichgeschlechtlich natürlich? Wir möchten manchmal raus aus der Situation, aber wie soll es gelingen? Im Double Feature geht es speziell um das Thema „Die Frau und ihr eigenes Leben“! Es wird immer aktuell bleiben.
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