Am Dienstag (14.12.) war die Filmpremiere von „Bruder Eichmann“ im Marstalltheater, der „Werkstattbühne“ des Residenztheaters. Michael Billenkamp, Dramaturg am Münchner Residenztheater, schrieb dazu:
„Vor genau fünfzig Jahren – am 15. Dezember 1961 – sprach das Jerusalemer Bezirksgericht das Urteil im Prozess gegen Adolf Eichmann, den ehemaligen Leiter des nationalsozialistischen «Referats für Judenangelegenheiten» und damit einem der Hauptverantwortlichen des organisierten Genozids.“
?? Es ist doch sechzig Jahre her. Weiter schreibt Billenkamp jedenfalls:
„Das Gericht sah es nach der Vernehmung von rund hundert Zeug*innen und einer Prozessdauer von vier Monaten als erwiesen an, dass Eichmann an der Ermordung von etwa sechs Millionen Juden beteiligt war. Eichmanns Verteidigungsstrategie, dass er lediglich ein unbedeutender Befehlsempfänger und damit ein «kleines Rädchen» im Getriebe des NS-Vernichtungsapparats gewesen sei, war damit gescheitert. Das Urteil lautete: Tod durch den Strang. Bis zum heutigen Tag ist die Hinrichtung Adolf Eichmanns am 1. Juni 1962 in Ramla bei Tel Aviv das einzige auf israelischen Boden vollstreckte Todesurteil.“
HIER der Text von Michael Billenkamp.
Adolf Eichmann kennt jeder. Drei Stationen sind es nun (Adolf Eichmann bis 1962 – Heinar Kipphardt 1983 – Sebastian Baumgarten 2021), die eine neue „Annäherung“ an die unfassbare Gesinnung von Adolf Eichmann in der neuen Filmdokumentation ergeben. Die „Eichmann-Haltung“ nannte Heinar Kipphardt diese Gesinnung. Besser gesagt: Sebastian Baumgarten nähert sich heute erneut Heinar Kippharts Theaterdokumentation „Bruder Eichmann“ aus dem Jahre 1983 an, in der sich Heinar Kipphart Adolf Eichmann angenähert hatte.
Die Filmdokumentation ist bis Ende Januar 2022 komplett mit Zusatzmaterial in der neuen Mediathek des Residenztheaters zu sehen! HIER der Link zur allgemeinen Seite der neuen Mediathek.
Zu Adolf Eichmann: Zu seinem vielleicht nicht so bekannten Weg von seiner Geburt an bis zum Zweiten Weltkrieg siehe die Materialien in der Mediathek. HIER! Zu seinem berüchtigten Weg dann im Zweiten Weltkrieg über sein Verhör in Argentinien und Israel hinweg bis zu seiner Hinrichtung 1962 siehe insgesamt die jetzt neue Filmdokumentation „Bruder Eichmann“. Auch HIER.
Zu Heinar Kipphardt 1983: Er verarbeitete die 1960 entstandenen Verhörprotokolle des israelischen Geheimdienstes mit Adolf Eichmann im Jahre 1983 zu einem Dokumentartheaterstück. Die Theaterdokumentation „Bruder Eichmann“ wurde 1983 am Residenztheater uraufgeführt. Im Grunde hatte Heinar Kipphardt damit auch zusammen mit wenigen anderen Autoren und Regisseuren der damaligen Zeit das Genre des „dokumentarischen Theaters“ begründet. Es wurde eine tief beunruhigende Dokumentation über Adolf Eichmann und über die hinter diesem stehende Gesinnung. „Die Banalität des Bösen“ sind die berühmten Worte von Hannah Arendt, die ja den Prozess gegen Adolf Eichmann in Israel komplett verfolgt hatte. Ich kenne noch die Dokumentation von 1983. Michael Rehberg spielte damals am Residenztheater Adolf Eichmann.
Und zu Sebastian Baumgarten 2021: Der Regisseur hat sich nun dem bei der Uraufführung 1983 kontrovers diskutierten Text von „Bruder Eichmann“ (man sprach von Verharmlosung etc.) mit den Möglichkeiten und Mitteln des heutigen digitalen Theaters erneut angenähert. Es ist die neue Filmdokumentation zu Heinar Kipphardts „Bruder Eichmann“ geworden. Adolf Eichmann wird hierin (soweit das Verhör wiedergegeben wird) nicht mehr personalisiert. Das ist angenehm und hebt sich sehr passend von der damaligen Theaterdokumentation von Heinar Kipphardt ab. Kein Michael Rehberg mehr! Es geht nicht um eine Person! Die Texte von Heinar Kipphardt werden allerdings von den Schauspielern des Theaters exakt nachgelesen. Die Schauspieler, die zum Einsatz kommen, sind aber sehr jung! Auch das ist passend! Es zeigt den Bezug von Adolf Eichmanns Äußerungen zur heutigen Zeit! Und zur Zukunft! Die Vergangenheit verschwindet ja immer mehr von der Bildfläche. Man kann sich hier aber nicht sagen: „Das war doch damals…“. Man kann hier auch nicht sagen: „Das war eben Adolf Eichmann!“ Es bleibt ein zeitloses Thema!
Die „Annäherung“ von Sebastian Baumgarten verbindet insoweit in feiner Art und Weise filmisch und durch Wort und Bild drei Ebenen: Das Verhör und die unglaublichen Äußerungen von Adolf Eichmann von 1960 zum Einen mit Heinar Kipphardts Dokumentation „Bruder Eichmann“ von 1983 zum Zweiten und mit unserem aktuellen Leben 2021 zum Dritten. Auch, wenn nur Bahngleise am Münchner Hauptbahnhof gezeigt werden, alles bekommt einen Gegenwartsbezug. Es wäre auch fatal gewesen, hätte man den Fall Eichmann als „Vergangenheit“ dargestellt!
Denn auch, wenn wir momentan in genug gigantischen Krisen leben (Corona mit der drohenden Omikron-Welle, das Klima), auch das muss sein: „Bruder Eichmann“ in diesen schweren Zeiten! Es bleibt ein Muss des Grauens, wir brauchen die Dokumentation immer wieder. Adolf Eichmanns Erklärungen in seinen Verhören nach seiner Festnahme in Argentinien und seiner Auslieferung nach Israel im Jahre 1960 zeigen, zu was der Mensch nicht nur damals „fähig“ war, sondern sicher im Ansatz auch heute noch fähig sein kann. Es geht um die Gesinnung, die Ursachen, die hinter allem standen: Befehl, Weisung, Gehorsam, absolute Selbstgewissheit allein durch absoluten Gehorsam, Hierarchie, Erziehung, Hörigkeit und die Verneinung jeder Art von eigener Verantwortung – das sind die Symptome, die es ja auch heute immer wieder gibt. In abgeschwächter Form, aber trotzdem!
Nun noch zur gestrigen Filmpremiere: Die Tribüne des Marstalltheaters war abgebaut, sie war jedenfalls nicht sichtbar. Ein schwarzer Raum, wenig Beleuchtung, ein dunkler enger Gang um den Raum herum, der die Besucher über „dokumentarische Stationen“ führte, in der Mitte des schwarzen Bühnenraumes dann ein Tisch mit einigen Büchern zu Heinar Kipphardts damaliger Theaterdokumentation „Bruder Eichmann“, an den vier Seitenwänden jeweils ein großer Flachbildschirm, davor in lockerer halbrunder Zusammenstellung Holzstühle, auf denen man saß und sich nach einer gewissen Zeit die Dokumentation ansah. In der Mitte des Raumes am Mischpult ein Musiker, der vor Beginn der Dokumentation leise vor sich hin dräuende und bedrohlich wirkende Musik einspielte. Eigentlich nur ein paar dumpfe und drohend summende Töne.
Man sieht und hört in der Filmdokumentation nicht nur den Text von Kipphardts „Bruder Eichmann“, man sieht und hört nun zusätzlich Personen, die um Heinar Kipphardt und seine damalige Dokumentation kreisten. Seine Tochter, sein Biograf, der Bühnenbildner der Aufführung im Residenztheater von 1983. Man sieht Ausschnitte der Theaterdokumentation aus 1983 mit Michael Rehberg.
Mit der Filmdokumentation von Sebastian Baumgarten wird das Geschehen um Adolf Eichmann in unsere Zeit transportiert. Ich fand es fein gelungen und weiterhin sehr sehr bedrückend, wenn man hört und auf sich einwirken lassen muss, was Adolf Eichmann erklärte!
Copyright des Beitragsbildes: Residenztheater
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