Ein nicht so schlechter Text aus Richard Powers‘ „Die Wurzeln des Lebens“. So kann man es auch sehen. Das Beitragsbild oben ist aus „Caspar Western Friedrich“ von Philippe Quesne, das 2017 an den Kammerspielen gezeigt wurde. Das Verhältnis des Menschen zur Natur.
Der Text:
„Stellen wir uns vor, der Planet wird um Mitternacht geboren, unsere Lebensspanne beträgt genau einen Tag.
Dann ist da alles. Etwas Unglaubliches geschieht, kurz nach Mittag. Eine Variante dieser einfachen Zellen versklavt einige andere. Zellkerne bekommen Membranen. Zellen entwickeln Organellen. Was anfangs ein Zeltplatz für einen war, entwickelt sich nun zur Stadt.
Der Tag ist zu zwei Drittel um, als die Wege von Pflanzen und Tieren sich trennen. Und trotzdem besteht das Leben immer noch nur aus Einzellern. Es wird schon dunkel, als sich die ersten komplexeren Zellgebilde zeigen. Alle größeren Lebensformen sind Spätankömmlinge, stellen sich erst nach Einbruch der Dunkelheit ein. Neun Uhr abends beschert der Welt Quallen und Würmer. Später in derselben Stunde beginnt das Gewimmel – Rückgrat, Knorpelgewebe, eine Explosion der Körperformen. Von einem Augenblick auf den anderen sprießen überall in der sich immer weiter ausbreitenden Krone neue Äste und Zweige und wachsen in rasendem Tempo.
Der im anatomischen Sinne moderne Mensch taucht vier Sekunden vor Mitternacht auf. Erste Höhlenmalereien gibt es drei Sekunden darauf. Und im Tausendstel eines Klicks des Minutenzeigers löst das Leben das Geheimnis der DNA und macht sich erstmals ein Bild vom Baum des Lebens. Als die Mitternacht kommt, besteht fast der gesamte Erdball aus Monokulturfeldern, zur Erhaltung und Ernährung einer einzigen Spezies. Und das ist der Moment, in dem sich der Baum des Lebens von neuem verwandelt. Der Augenblick, in dem der mächtige Stamm ins Wanken gerät.“
©️ des Fotos: Martin Argyroglo, Münchner Kammerspiele.
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