Seine Tochter Anna wurde 1992 geboren, drei Jahre vor seinem Tod. Die Tochter von Heiner Müller. Vielleicht denkt sie sich:
„Papa, ich habe dich ja kaum gekannt, auf Bildern schaust du immer recht ernst. Auf den offiziellen jedenfalls. Oder ist es Gelassenheit – mit Deiner Zigarre! Na gut, du hast in der DDR gelebt, freiwillig, trotzdem hattest Du oft genug Ärger mit der Stasi. Das war sicherlich nicht lustig. Andererseits hast du dir ja, hört man, gedacht: ‚Im Westen könnte ich nicht schreiben, ich brauche den Osten. Im Westen spielen alle die Unschuldigen‘. Der Westen war dir wohl zu leichtlebig.“
Und sie wird etwa denken: „Sie waren trotzdem ständig gegen dich, in der DDR. Weil du nicht komplett Ihrer Linie gefolgt bist. Sie haben Deine Stücke verboten. Wie damals „Mauser“, das 1975 in Amerika und 1980 in der damaligen Bundesrepublik Deutschland (an den Münchner Kammerspielen) erstmals aufgeführt wurde und das derzeit am Münchner Residenztheater in einer Inszenierung von Oliver Frljic zu sehen ist.“
Und sie wird wissen: „Mauser“ hieß in der Zeit der Russischen Revolution die erste Selbstladewaffe, die massenhaft eingesetzt wurde und das Töten erleichterte. Und „Mauser“ heißt der Wechsel des Federkleides bei Vögeln.
Sie wird sich vielleicht auch sagen: „Das war die Idee: Der Mensch ändert sich durch Blut, also durch eine Revolution, aber nur dann ändert er sich. Er muss aber durch eine fürchterlich blutige Revolution durchkommen, um sich zu ändern. Das geht aber gar nicht! Du wolltest vielleicht im Grunde auch zeigen, wie sinnlos eine Revolution ist! Und das in der DDR! Sie wird ja nie so gelingen, wie sie sein müsste. Weltrevolution! Wir Menschen können die Dinge eben kaum ändern. Das macht natürlich nicht fröhlich. Es bleiben nur blutige Hände.
Ich verstehe auch: Wenn wir alles akzeptieren, wie es gerade ist, rennen wir natürlich in die Falle. In die Falle derjenigen, die vielleicht sogar demokratisch gewählt wurden. Oder in die Fallen von Autokraten oder Despoten. Da müssen wir im Grunde aufpassen. Immer wieder aufpassen, das wird nie aufhören, ich weiß. Aber was will man machen?“ Vielleicht denkt sie so oder ähnlich.
Und dann wird Anna Müller vielleicht noch denken: „Heutzutage ist ja auch wieder viel aufzupassen! Das beginnt mit der Umwelt, lokal, regional, national, international, global! Und dann das Soziale. Natürlich wollen die Reichen immer reicher werden. Ist ja auch ok. Aber es gibt viele Arme und Vielen geht es nicht gut. Es gibt wahnsinnig viele arme Menschen, nicht nur in Deutschland, sondern global. Natürlich können wir nicht allen helfen. Aber wir müssen schauen, dass wir irgendwie Verbesserungen hinbekommen. Aber Revolution?“
Anna wird eventuell noch denken: „Du hast eigentlich mit ‚Mauser‘ gezeigt, wie unsinnig und blutig eine Revolution wäre. ‚Revolution heißt töten, damit der Tod aufhört‘, heißt es ja. Alle Revolutionsfeinde müssen umgebracht werden. ‚Und das Gras noch muss ausgerissen werden, damit es wieder grün wird‘, heißt es auch immer wieder gebetsmühlenartig in ‚Mauser‘. Aber Revolution – ist das nicht Geschichte? Es ist doch die Frage, ob wir auf der Welt jemals wieder eine blutige Revolution erleben werden.“
Vielleicht sagt sie auch: „Ich habe im Münchner Residenzheater (Nebenbühne Marstalltheater) die Inszenierung Deines Stückes „Mauser“ gesehen. Regie von Oliver Frljic. Diese Inszenierung ist wirklich eine Huldigung Deiner Person! Schon kurz nach Beginn wird eine riesige Fotowand mit einem Portraitfoto von Dir herabgelassen (siehe Blogbild). Das Stück wird vor deinem Konterfei gespielt. Am Rand der Bühne sitzt Du sogar. Mit Deiner Brille. Und ganz am Ende wird ein Grabstein mit Inschrift von Dir herein gefahren. Auch wenn die Büste aus Eis, die auf dem Grabstein steht, dann von Nora Buzalka mit einer Axt zertrümmert wird.“
Und so weiter! Also ich habe es jetzt auch gesehen. Nachdem ich letztens „Macbeth“ von Heiner Müller nach William Shakespeare am Berliner Ensemble gesehen hatte HIER mein damaliger Beitrag). Fazit: Eine sehr intensive Inszenierung! Viele tote Leiber, nackte Menschen, schwere Worte! Eine Herausforderung. Eine gelungene und schlüssige Herausforderung. Es gibt kein Bühnenbild, es gibt etwas Nebel und die Blicke von Heiner Müller. Schauspielerisch fand ich es von allen Mitwirkenden sehr überzeugend. Es sind ja nur fünf Mitwirkende: Frank Pätzold, Götz Schulte, Marcel Heuperman, Nora Buzalka und Christian Erdt. Sie ziehen in den Bann, keine Frage. (Endlich einmal war) wirklich nichts übertrieben, auch wenn krasseste Leistungen gefragt waren! Es war extrem glaubhaft von allen. HIER der Link zur Seite des Stückes im Onlineauftritt des Residenztheaters.
Nur fragt man sich am Ende: Was soll man davon halten? War es eine Rückschau auf die Zeit, als man noch an Revolution dachte? Es zeigt ja – wie gesagt: höchst eindrücklich und überzeugend – die Sinnlosigkeit einer „Revolution“! Und, wie auch gesagt, die Büste von Heiner Müller wird am Ende sogar zerhackt! Also ist alles sinnlos? Aktuelle Bezüge konnte ich jedenfalls für mich selbst nicht herstellen. Aber das muss natürlich auch nicht jedes Mal sein. Es hat mich auf jeden Fall dazu angeregt, mich ein wenig mit Heiner Müller auseinanderzusetzen. Auch wenn sich die Zeiten geändert haben. Wie gesagt: Im Januar 2019 am Berliner Ensemble das Stück ÜBER Heiner Müller: „Heiner 1-4“, Uraufführung am 26. Januar. HIER der Link.
Wer der Person Heiner Müller jedenfalls etwas näher kommen will, sollte sich die beeindruckende Inszenierung auf jeden Fall ansehen, auch wenn sie einen eher ratlos zurücklässt.
©️des Beitragsbildes: Konrad Fersterer, Alfred Kleinheinz, Münchner Residenztheater
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