Zwei Bücher, die denselben Vorgang zum Anlass ihrer Erzählung nehmen, ihn und seine Folgen aber aus völlig unterschiedlichen Perspektiven erzählen: Albert Camus schrieb „Der Fremde„, in dem der Franzose Meursault am Strand in Algerien einfach einen „Araber“ erschießt, Kamel Daoud beschrieb dazu jetzt in seinem vor allem in Frankreich äußerst erfolgreichen Buch die Sichtweise des Bruders des „Arabers“ in „Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung„. Kamel Daoud hat am 27.09.2016 in den Münchner Kammerspielen aus dem Buch gelesen und darüber diskutiert und am 29.09.2016 war in den Kammerspielen die Premiere des Stückes „Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung“. Hierzu heißt es – dem internationalen Ansatz des Theaters entsprechend – im Programm: Der aus dem Iran kommende international renommierte Regisseur Amir Reza Koohestani verlässt für seine erste Produktion an den Kammerspielen die rein postkoloniale Perspektive und sucht über sie hinausgehend allgemeine Prinzipien von Unterdrückung, Wiederaneignung und Selbstbehauptung darzustellen. Mit Hilfe von SchauspielerInnen mit iranischen, libanesischen, lettischen, bulgarischen, schweizerischen und deutschen Wurzeln setzt er Daouds Roman in ein multiperspektivisches Sprachpanorama. Mal sehen.
Während Camus existentialistisch und nüchtern die Nichtigkeit selbst des Todes eines „Arabers“ beschreibt, greift Daoud in sehr subjektiver Sprache die Befindlichkeiten der Mutter und des Bruders des „Arabers“ auf. Daouds Buch stellt in nicht einfacher, aber sehr lesenswerter Form dar, wie der Tod des „Arabers“ das Leben seiner Mutter und des Bruders zerstört hat, er kommt dabei aber immer wieder auch auf die Befindlichkeit der Algerier vor und nach dem Unabhängigkeitskrieg. Aber nicht nur das. Er findet schöne Gedanken bei alledem.
Zum Theaterstück:
Die Kritiken zum Stück sind zu Recht durchgehend positiv! SZ, Deutschlandfunk, FAZ, Frankfurter Rundschau etc. Ein schönes Theaterereignis. Dank einer klasse Umsetzung des Buches auf die Bühne durch den Regisseur Amir Reza Koojestani. Er spielt ständig mit verschiedenen Ebenen, thematisch und zeitlich. Man wird hin und her getragen. Unabhängig davon, denke ich, wird das Buch „Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung“ von Kamel Daoud überinterpretiert. Vielleicht wundert sich Kamel Daoud selber darüber. Die Umsetzung des Buches durch Koohestani jedenfalls vermeidet Gott sei Dank eine derartige Überinterpretation. Petra Hallmeyer schreibt in http://www.nachtkritik.de dazu etwa: „In einer Collage zeitlich versetzter Szenen erzählt er (Koohestani) mit stilisierten, starken Bildern die Geschichte von Musas Bruder Harun (die Schreibweise der Namen weicht von der Vorlage ab) und dessen Mutter. Wir begegnen Harun als Kind, als jungem und altem Mann. Wir sehen Meursault (Gundars Āboliņš), der die Leiche Musas brutal mit dem Fuß in eine Grube stößt, aus der ein geköpfter Mann auftaucht. Unter der kreisrunden Scheibe des Mondes tritt der Tote seinem Mörder gegenüber und erklärt ihm beharrlich unzählige Male ´’Du hast mich erschossen‘.“
Und so weiter.
Wie stehen beide Bücher zu einander? Camus zeigt einen existenzialistischen Menschen, dem letztlich alles egal ist. Alles. Anfangs schon die Tatsache, dass seine Mutter stirbt. Dann tötet er sogar einen „Araber“ am Strand. Wegen der Sonne. Egal sind ihm auch Religionen etc. Alles ohne Regung. Eigenlich perfekt fürchterlich und schrecklich nüchtern geschrieben. Seiner Haltung tritt aber das gesellschaftliche System entgegen: Er kommt ins Gefängnis, es gibt einen Prozess – auch das ist ihm egal, er findet es eher „interessant“ – und er wird zum Tode verurteilt. Den Gegensatz Existenzialismus – „gesellschaftliche Funktionsfähigkeit“ zeigt Camus damit auf. Das gesellschaftliche System gewinnt. Kamel Daoud greift dieses Geschehen auf, zeigt es aber von einer äußerst emotionalen, lebensnahen Seite der Mutter und des Bruders des getöteten Arabers. Auch der Bruder tötet sogar jemanden, einen Franzosen. Er tötet aber nicht als Existenzialist, als gefühlsloser, philosophischer Mensch, sondern in völliger emotionaler Verstrickung, um einen Ausweg zu finden. Damit wird Camus‘ Geschehen von Kamel Daoud komplett auf den Kopf gestellt. Auch die Erschießung des Franzosen ist ein Mord. In seinem Fall hat der Bruder des ursprünglich getöteten Arabers aber das Glück, dass das gesellschaftliche Leben NICHT mit einer Bestrafung reagiert. Es herrschte – bis einen Tag vor der Ermordung des Franzosen – der algerische Unabhängigkeitskampf gegen Frankreich, da war Töten ein anderes Thema. Der Bruder des ursprünglich getöteten Arabers wird daher nicht bestraft. Die Subjektivität gewinnt bei Daoud. In der von Daoud dargestellten lebensbestimmenden Subjektivität zeigt sich durchaus ein Unterschied zwischen westlicher und arabischer Welt. Themen wie Islam, Fremde, Kolonialismus, Orient – Okzident etc. spielen aber nur nebenbei herein. Aber sie spielen etwas herein. Die Subjektivität ist davon getragen. Schon das ist interessant. Hier beginnt aber oft, denke ich, die Überinterpretation. Es geht Daoud, vermute ich, eigentlich nicht um politische Aussagen, sondern eher um die subjektiven Empfindungen der Familie des erschossenen Arabers. Etwa in wunderbaren Worten, wenn es um eine Definition von Liebe geht! Es ist m. E. kein Protestbuch! Eher ein Buch, das dem schmerzlosen Existenzialismus von Camus den Realismus und die sehr schmerzhafte Subjektivität von Daoud gegenüberstellt.
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