Im heute zu Ende gehenden Jahr 2023 hatte der in Österreich (Wien) lebende (gebürtige Inder) Tonio Schachinger, 32 Jahre alt, mit seinem Roman „Echtzeitalter“ den Deutschen Buchpreis gewonnen. Es ist erst sein zweiter Roman. Ich habe den Roman zu Weihnachten geschenkt bekommen und gelesen.
HIER der Link zu einer ersten Besprechung des Romans auf dem Sender 3Sat, damals am Tag der Verleihung des Deutschen Buchpreises 2023. Und HIER ein etwas längeres Gespräch mit Tonio Schachinger über dessen Roman auf dem „Blauen Sofa“.
Im Roman „Echtzeitalter“ geht es um den an eine elitäre, konservative und natürlich altmodische Schule in Wien eingeschulten Jungen namens Till, den man im Roman bis zum Schulabschluss verfolgt. Die Schule wird im Roman Marianum genannt, angelehnt ist alles an das in Wien real existierende Theresianum, die renommierteste Schule in Wien, auf der Tonio Schachinger selbst war.
Till, in der Schule erst unauffällig, dann gefährdet, gibt sich einem Hobby hin, das an dieser Schule völlig fehl am Platze ist: Dem Onlinespielen. Age of Emperors. Zwei Welten, die nicht zueinander passen und auch in diesem Roman nicht zueinander kommen. Till steigt durch seine oft nächtlichen Aktivitäten zu einem der zehn besten Spieler von Age of Emperors weltweit auf und wird schließlich sogar zu Turnieren zum Beispiel in China eingeladen. Till hat seine Stärken schulisch ohnehin in der Mathematik und den Naturwissenschaften, nicht in den Geisteswissenschaften. Auch das findet im Marianum schon kaum Anklang, macht es ihm schwer. Beide Welten – die Tradition der Schule und seine Onlinewelt – werden aber gerade durch ihre Trennung voneinander sehr prägnant und realistisch dargestellt! Der Roman endet dann mit einer Äußerung von Till mit Rückblick, eine Äußerung, die er kurz nach dem Ende der Schulzeit macht: „Es war die Hölle, du Idiot!“. Was kurz davor gesagt wird, siehe unten.
Es geht aber nicht nur „platt“ um diesen Konflikt zwischen den althergebrachten Strukturen dieses Gymnasiums und Tills Zuneigung zu modernem Onlinespielen. Dieser Grundkonflikt schwelt quasi nur nebenbei mit. Der Roman zeichnet sich im Grunde dadurch aus, dass all die Personen, die auf Tills Schulweg über die Jahre hinweg eine Rolle spielen, immer wieder etwas anders, als man es „gewohnt“ ist, aufgezeigt werden. Sie werden garnicht umständlich beschrieben, sie handeln. Die Lehrer, besonders der oberstrenge Klassenlehrer Dolimar, die engeren oder entfernteren Freunde, die Klassenkameraden, die Freundinnen Fina und Feli, die erste große Liebe, die Eltern, alle haben ihre Welten. Till muss sich durch all das durchlavieren, sehr realistisch, mit vielen gängigen Problemen: Die Scheidung der Eltern, der Tod des Vaters, das Mädchen Feli (die erste Liebe wie gesagt, die sich erst nach Jahren ergibt), der besagte Klassenlehrer Dolimar (ein strenger Tyrann, der auf alte Traditionen und Werte abstellt, nur Literaturklassiker lesen lässt und ständig bei kleinsten Verfehlungen Strafen verteilt), das Rauchereck m Schulhof, die Umgehung von Schulstrafen und und und. „Sgoterfessor“ sagt man, wenn man einem Lehrer im Gang der Schule begegnet. Das waren noch Zeiten!
Schachinger hat dafür einen schönen eigenen Sprachstil. Einerseits beschreibt er vieles – nicht etwa die Personen – in oft komplizierten, verschachtelten Sätzen, die ich teils mehrfach lesen musste. Andererseits aber geht er dadurch ständig wunderbar treffend auf die einzelnen Situationen und auf deren immer wieder vielfältigen Auswirkungen für Till ein. Ich empfehle, das Buch deswegen relativ langsam zu lesen. In jedem Satz steckt sehr viel. Das ist die Kunst von Schachinger! Dann aber kommen auch wieder ganz knappe Schilderungen, wenn es passt. Der Stil ist modern und locker.
Nicht leicht ist es nur, immer die Zeitsprünge der mehrere Jahre dauernden Schulzeit von Till mitzubekommen, das aber ist nur eine kleine Nebensache. Es bleibt wirklich interessant, dass man ständig gleichzeitig durch Till einen Blick auf die alte – strenge – Welt dieser Schule und auf die neue – freie – Welt des Onlinegamings wirft. Und zusätzlich Tills Entwicklung über die Jahre hinweg mit den „gängigen“ Problemen und Freuden der Jugend mitbekommt. So wird es im Grunde zu einer Gesellschaftsschau. Eine Art Kulturclash. Die beide Welten (konservative Eliteschule und Onlinegaming) haben dabei auch heute noch jede für sich ihre eigene Berechtigung, merkt man. Es ist nicht so, dass das Eine das Andere aushebeln würde. Deswegen sagt Palffy etwa, ein ehemaliger Schulkamerad von Till, ebenfalls im Rückblick auf seine Schulzeit im Marianum am Ende des Romans:
„ Weißt du, im Nachhinein war’s schon cool, was uns der Dolimar beigebracht hat, auch wenn mir vorkommt, dass ich schon alles vergessen hab. Ich vermiss das Marianum sogar ein bissi, weißt du, einfach so in der Schule sitzen und etwas beigebracht bekommen, über, keine Ahnung, Eposse oder Minnelieder. Es war schon super, eigentlich.“
Und Till sagt dann eben:
„Spinnst du? Es war die Hölle, du Idiot!“
Tja, man kann beides brauchen, muss fast beides im Auge haben, Altes und Neues.
Leave A Reply