Es gibt manchmal Theaterstücke, da fragt man sich danach: „Warum habe ich das eigentlich gesehen?“ Es sagt nichts über die Qualität des Stückes und der Inszenierung aus, aber ich persönlich stelle mir eine solche Frage dann, wenn ich nach einem Theaterabend überhaupt nicht auch nur irgendwie über das gesehene Stück weiter nachdenken kann, keinen Aspekt finde, der mich aktuell – die Zeiten ändern sich immer – irgendwie weiter interessieren könnte. Natürlich kann man sagen, man kann über jedes Theaterstück nachdenken. Aber irgendetwas kann ja auch fehlen.
Nun habe ich nach langer Zeit einmal wieder ein solches Stück gesehen: „Engel in Amerika“ von Tony Kushner, im Münchner Residenztheater, noch dazu ein mehr als fünfstündiger Theaterabend. Es ließ mich unberührt. Gut, da geht es jedem anders. Es ist eine Inszenierung von Simon Stone – was für mich ansich bedeutet: Simon Stone, es wird interessant! Allein seine letzten beiden Inszenierungen „Unsere Zeit“ und „Drei Schwestern“ am Münchner Residenztheater waren/sind schlicht gelungen, hatten es mir angetan. Vor allem waren es wunderbare Ensemblearbeiten, klasse gespielt! Aber auch die Bühnenbilder, die Inszenierungen, “real life“, man sah sich.
Tschechows “Drei Schwestern“ etwa – die Inszenierung war vor wenigen Jahren schon zum Berliner Theatertreffen eingeladen – war damals übrigens eine Übernahme vom Theater Basel, nachdem der damalige dortige Intendant Andreas Beck vor wenigen Jahren ans Münchner Residenztheater gewechselt war. Auch die Inszenierung von „Engel in Amerika“ von Simon Stone ist nun eine solche Übernahme aus Basel, sie war vor Coronazeiten für das Programm des Residenztheaters vorgesehen, kommt aber erst jetzt zum Zuge.
Es gibt Theaterstücke, die „bleiben auf der Bühne“, man kann zuschauen, wird aber einfach nicht gefesselt, nicht “einbezogen“. Es sind Theaterstücke, die es – inhaltlich, darstellerisch und von der Inszenierung her – einfach schwer haben oder nicht schaffen, auf das Publikum „überzuspringen“. Als ein solches Theaterstück muss ich „Engel in Amerika“ bezeichnen. Die Inszenierung von Simon Stone selbst konnte daran wenig ändern, denn Tony Kushner hat teilweise Vorgaben für Inszenierungen dieses Stückes gemacht, die wenig Spielraum lassen. Aber es war auch der Inhalt des Stückes selbst, das Thema, das den Abend schlicht „auf der Bühne“ ließ.
Worum es geht?
Es geht um die Befindlichkeiten in Amerika etwa um 1985 herum. Eine Nabelschau aus amerikanischen Augen – und das in unseren heutigen Zeiten (Krieg, Umwelt, Inflation, Globalisierung, weltweite Krisen …). AIDS als Schwerpunkt, aber genauso Rassismus, Neoliberalismus, der damalige sozial brutale und kalte Weg Amerikas, der Glaube an den Kapitalismus, an die Macht, Ronald Reagan, das eigenartige Politikverständnis – und Tony Kushners Kritik daran. Der Anwalt Roy Cohn (siehe das Beitragsbild oben, Roland Koch) als das größte “Arschloch“ in der Runde. Es ist viel und war vielleicht auch deswegen sehr erfolgreich in Amerika, es traf wohl die amerikanischen Verhältnisse gut. Matthew Lopez‘ Stück “Das Vermächtnis“, das derzeit auch noch im Repertoire des Residenztheaters ist und speziell das Thema AIDS noch eingehender – und weit beeindruckender – behandelt, ist als „lose Fortschreibung von «Engel in Amerika»“ zu lesen.
Toni Kushner war mit seinem Stück „Engel in Amerika“ damals in Amerika schlagartig erfolgreich und bekannt geworden. Damals – Ende der Achtziger/Anfang der Neunzigerjahre – diese Zeitspanne von über 30 Jahren merkt man dem Stück an.
Die Inszenierung von „Engel in Amerika“ – sie bekam 2016 den österreichischen Nestroypreis für die beste deutschsprachige Theateraufführung – macht heute aber schon einen eher biederen Eindruck. Das fast „harmlose“ Aufbrechen der Bühnendecke bei Hereinbrechen der „Engel“, einem Kernelement des Stückes …

… oder die dann weiterhin schlicht herunterhängenden Dachplatten, ebenso das öfters kurz aufflackernde Licht als Zeichen einer unerklärlichen Macht, es war zu wenig (allerdings gibt es gerade hierzu eben teilweise auch Vorgaben von Toni Kushner).
Noch etwas: Es ist sehr viel Sprechtext (eine wirklich große Leistung aller Schauspieler und SchauspielerInnen!), viele Aspekte (siehe oben) und Spitzen etc. werden sehr schnell gesprochen, sie werden oft nur sehr kurz, dafür sehr laut angesprochen, in den sich auf der weiten Bühne parallel abspielenden, teilweise sich miteinander überlappenden Szenen. „Bühne“ hieß wild verteilt im Raum Stühle, ein Tisch, ein Bett, ein Sofa, ein Fernseher, Gegenstände, Schminktische hinten aufgereiht. Die SchauspielerInnen bei der Arbeit auf der Bühne, da sah man eben zu. So rauschte ein nicht gerade aktueller Themenabend an mir vorbei. Ein Stück aus einer anderen Zeit, das gerade deswegen, weil es politische Verhältnisse behandelt, momentan einfach nicht zeitgemäß ist. Politisch haben sich die Dinge sehr sehr verändert. Ich vermute: Unpolitische Themen sind derzeit im Theater möglich, politische Themen sind momentan fast nur mit Bezug auf die aktuellen Verhältnisse möglich. und das ist bei „Engel in Amerika“ nicht der Fall. Es mag Corona, es mag der Ukrainekrieg, es mögen all die weiteren gigantischen Probleme unserer Zeit (Klima, Inflation, Stromversorgung, Globalisierung etc) sein, die vielleicht bewirken, dass man derzeit mehr darauf achtet, was die Welt „bewegt“, was sie “zusammenhält“ – um Johann Wolfgang von Goethe zu zitieren. Das Bedürfnis nach Theater ändert sich vielleicht in all diesen Zusammenhängen.
HIER der link zur Stückeseite „Engel in Amerika“ auf der Website des Münchner Residenztheaters.
Hier noch ein Trailer des Stückes von der damaligen Aufführung der Inszenierung am Theater Basel. Es waren in Basel fast durchgängig dieselben Schauspieler, die nunmehr im Ensemble des Münchner Residenztheaters spielen.
Copyright der Bilder: Birgit Hupfeld
Leave A Reply