Anlässlich eines Leseabends von PenTales in München entstanden:
Comeback
Sie hatte wenig gegessen, war ruhig, war gelassen. Und zufrieden. Zufrieden mit dem Nichts, das man von ihr wusste. Essen war jetzt Nebensache. Das rote T-Shirt zappelte an ihrem schlanken Körper. Wie sie selbst auch so lange gezappelt hatte, im Wind ihres Lebens, seit sie weggegangen war. Sie strich sich eine Strähne ihres langen braunen Haares aus dem Gesicht. Die Strähne war durch einen kleinen Luftzug vor ihre schönen Augen gefallen. Der Krankenwagen, der an ihr vorbeigerauscht war, hatte den Luftzug ausgelöst. Tangomusik spielte sich in ihre Ohren. Mit zarten Schritten schlich sie die Straße entlang, auf das Haus zu. Ihre schlanken, sehnigen Füße berührten mit jedem ihrer Schritte den Saum des grünen, mit vielen kleinen braunen und schwarzen Blumen bestickten leichten Tuches, das als Rock diente und bis zu den Knöcheln fiel. Wortlos, geräuschlos und staunend sah sie hinten über dem Haus den Himmel. Sie dachte an die langen Tage, die sie im penetrant nach Öl riechenden Containerraum des Frachtschiffes verbracht hatte. Den Geruch hatte sie immer noch in der Nase. Der dicke und etwas untersetzte Pedro hatte ihr wenigstens sehr bald eine Taschenlampe gebracht gehabt, auch für die Mahlzeiten, die er im zerbeulten Blechgeschirr heruntergeschmuggelt hatte. Die Taschenlampe, die jetzt im Rucksack steckte. Im Rucksack, den sie in der Stadt hat stehen lassen. Nachdem sie noch den dunkelgrünen Pullover herausgenommen hatte, den sie jetzt unter dem Arm trug. Die Lautstärke ihrer Kopfhörer fuhr sie etwas herunter. Jetzt hatte sie das Haus am Ende der Straße erreicht. Sie drückte das immer noch quietschende flache Stahltor auf, das einen schmalen Durchlass durch die dicke grüne Hecke gewährte. Es war angelehnt. Sie näherte sich der blauen Eingangstüre, nahm den Kopfhörer von den Ohren und legte ihn sich um den Hals. Auch die Eingangstüre war angelehnt. Als würde man sie erwarten, aber das konnte ja nicht sein. Sie war ja für vermisst erklärt worden, wohl ertrunken im Fluss. Mit fünfzehn Jahren. Niemand hatte damals bemerkt, dass sie nach Südamerika geflogen war. Und dort hatte sie ihr Leben kennen gelernt. Sie hatte sich absichtlich entwurzelt. Mit staunendem Blick hatte sie dort nur ihr Leben beobachtet. Ihr Leben ohne Familie, ohne Schule, ohne Freunde, ohne all das, was ihr Leben ausgemacht hatte. Sie meinte jedenfalls, dass es ohne all das auch gehen müsse, das Leben. Sie hatte schon damals älter als fünfzehn Jahre alt gewirkt. Brasilien, Peru, Chile, Argentinien. Immer wieder hatte sie sich gefragt, ob sie irgendjemandem in der Heimat mitteilen sollte, dass sie am Leben sei. Dass sie nicht in den Fluss gesprungen war, sondern die Sachen extra ans Ufer gelegt hatte. Aber nein, sie tat es nicht, weil sie fürchtete, dass sie in Abhängigkeit von einem solchen Kontakt kommen könnte. Irgendwie, wenn auch nur gedanklich. Denn vielleicht würde es ihre Gedanken verändern, zu wissen, dass sie es wissen. Nein, sie wollte sehen, wie es ist, völlig unbestimmt zu leben. Das war immer mehr ihr Wunsch geworden, eine unaufhaltsame Sucht in ihr, damals, bevor sie nicht mehr anders konnte. Weil sie immer gemeint hatte, alle würden so viel von ihr erwarten, hatte sie sich davor schon ein ganzes Jahr lang nicht aus ihrem Zimmer begeben. Das Reden hatte sie dann fast eingestellt. Sie ist krankgeschrieben worden, musste zu Hause bleiben. Nichts könne von ihr erwartet werden, gar nichts, hatte sie immer gesagt, sie wolle nicht. Und ständig gesagt zu bekommen, was schön ist, hässlich ist, nützlich ist, sinnvoll ist, sinnlos ist, gut ist, schlecht ist, sie hatte es nicht mehr ausgehalten. Wie würde sie eigentlich werden ohne all das, hatte sie sich gefragt. Es war die einzige Frage, die sie sich noch gestellt hatte. Wie komme sie durch das Leben ohne all das? Und sie hat sich diese Frage beantwortet. Plötzlich stand sie jetzt, zwei Jahre später, ihrem Vater gegenüber. Sie an der aufgeschobenen Eingangstüre und er, er kam aus der Küche, in den schmalen Gang, blieb starr neben der dunkelbraunen kleinen Kommode stehen. Regungslos. So blickten sie sich minutenlang an. Sie ließ den grünen Pullover fallen. Er war alt geworden, verändert, hatte graue Haare bekommen, sah erschöpft aus. Obwohl die grauen Haare zu seinem dunkelblauen Hemd passten, das er unter dem braunen Sommersakko trug. Immer noch war die dunkelbraune Brille in seinem schmalen Gesicht mit dem kurz geschorenen Bart dominant. Vor zwei Jahren hatte sie ihren Vater und ihre Mutter in so fürchterlich tiefe Trauer gestürzt gehabt. Jetzt dastehen, mehr konnten sie beide nicht tun. Dastehen. Er erkannte sie und fing an zu weinen. Sie dagegen bemerkte, dass sie es geschafft hatte, ein inneres Gleichgewicht zu halten. Sie spürte weder Gram, noch schlechte Erinnerungen, noch irgendeine Aufruhr, die ihr den Blick und den Moment verzerrt hätten. Sie war stolz auf sich und freute sich, freute sich, wieder hier zu sein. Ohne jede Bindung von Neuem beginnen zu können.
Bis sie erfuhr, dass ihre Mutter wegen ihrer Wahnvorstellungen gerade wieder mit dem Krankenwagen abgeholt und in die Nervenklinik gebracht worden war, und ihr klar wurde, dass sie zwei verletzliche Leben zerstört hatte, weil sie auf so brutale Weise nur auf ihr eigenes geachtet hatte.
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