Wir führen immer diese verdammte – oder schöne – Vergangenheit mit uns herum. Offenbar gibt es für uns Menschen keine Gegenwart ohne Vergangenheit. Anders als für Tiere. Irgendwie geht es im kürzlich erschienenen Buch von Matthias Nawrat „Der traurige Gast“ immer wieder und in allen möglichen Formen um diese Vergangenheit in der Gegenwart. Und eigentlich hat jeder daran zu knapsen.
Meine Bewertung (1-10): 📚📚📚📚📚
Das Buch hat irritiert. Es ist kein fröhliches Buch. Eine Ich-Erzählung, wobei man über den Ich-Erzähler kaum etwas erfährt. Das Buch hat keine besondere Handlung. Der Ich-Erzähler trifft innerhalb einer überschaubaren Periode um das Berlin-Attentat am Breitscheidplatz herum verschiedene Menschen, die viel reden, viel erzählen. Eine recht einsam wirkende Architektin, der frühere Chirurg Dariusz, der jetzt Mitarbeiter an einer Tankstelle ist, der alte „Freund“ Torsten, der jetzt Wissenschaftler ist, und und und.
Der Tod kommt dabei immer wieder zum Vorschein. „Der Friedhof“ heißt ein Kapitel, „Die Beerdigung“ ein anderes, einen Selbstmord gibt es, weitere Todesfälle. Kurz das Attentat am Breitscheidplatz, früher die Judenermordungen, die Vertreibung … Der Ich-Erzähler selbst – Matthias Nawrat ist Pole – ist bei alledem distanziert, verunsichert, überrascht, irritiert, auch verständnislos oder orientierungslos.
Das Buch ist unterteilt in drei große Abschnitte: Die Architektin – Die Stadt – Der Arzt. Jeder Abschnitt hat wiederum mehrere kurze Erzählungen. 13 – 13 – 12. Das macht das Lesen leicht, man kann immer unterbrechen. Innerhalb der drei großen Abschnitte beziehen sich die kurzen Erzählungen meist aufeinander.
Ich habe viel an das – erstaunlichere – Buch von Teju Cole „Open City“ gedacht, das ich vor circa einem Jahr gelesen hatte. HIER mein damaliger Bericht dazu. Teju Cole geht durch New Yorks Straßen und erzählt von gedanklichen Verbindungen zu dem, was er sieht, von seinen Eindrücken, seinen Erinnerungen, seinen Gefühlen beim Weg durch New York. Mehr nicht – aber sehr lesenswert, irgendwie besonders.
Matthias Nawrats Erzählung(en) „spielen“ also in Berlin. Matthias Nawrat läßt aber – im Gegensatz zu Teju Cole – andere Menschen reden, redet nicht selber. Und im Unterschied zu Teju Cole gibt es bei Matthias Nawrat im Grunde deutlicher einen „roten Faden“, der aber sehr allgemein gehalten ist: Die Gegenwart und die Vergangenheit. Und im Grunde noch das Thema: Das „Leben heute“ und das „Leben gestern“. Die Tatsache, dass man im Grunde immer schon gelebt hat und dass zumindest am selben Ort viele Generationen genau dort schon irgendetwas erlebt haben oder oder. Und das Ganze eben eher belastend. Im Grunde sind es viele große philosophische Ansätze. Dennoch hat mich das Buch irritiert, das von Teju Cole nicht so. Nawrat hat mich hoffnungsloser zurückgelassen.
Viele philosophische Ansätze zum Leben kann man also finden, meines Erachtens allerdings sind die Überlegungen zu allgemein gehalten. Und noch dazu meist mit irgendwie trauriger oder negative Tendenz. Anders als bei Teju Cole. Die Erinnerungen, von denen jede Person erzählt, sind meist – ich würde sagen – problematische, belastende Erinnerungen. Und Sie werden oft nur angerissen, was den Leser natürlich teils ratlos zurücklässt.
Die Beziehung zu den Geschwistern, der Tod des Sohnes, die Eltern, die Mutter, Liebschaften, eigene Erlebnisse, der erste Ehemann, die Kindheit, der Ort der Kindheit, Ermordung von Juden, Vertreibung, Mythologien, und und und. Alles, was in unser Leben herein gespielt und es bestimmt. Es ist etwas wahllos. Motto: „Der Mensch, das komische Wesen …“. Oder: „Gestern“ und „Heute“ – warum das alles? Das ist natürlich so, aber das als Thema?
Interessant ist jedenfalls der Vergleich der beiden genannten Bücher von Matthias Nawrat und Teju Cole. Europäische Literatur (natürlich negativ schon im Titel: „Der traurige Gast“) und amerikanische Literatur (ähnlich, aber positiver schon im Titel: „Open City“).
HIER der Link zur Seite des Rowohlt Verlags zum Buch von Matthias Nawrat, Der Traurige Gast.